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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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gar nicht weiß, dass man in der Scheiße sitzt, das ist niederträchtig.
    Ich beschloss, selber zu sprechen, denn Mel sprechen zu lassen, bedeutete, die Dinge zu verkomplizieren. Ich holte tief Luft und erzählte alles: von meinem Krieg mit dem Geier, von der Falle, in die Bart und seine Bande aus jungen Süchtigen uns locken wollten, von der Schule ...
    Finger hörte aufmerksam zu, achtete auf jedes Detail, er war eben ein Knasti. Geschichten sind der einzige Zeitvertreib der Kriminellen im Gefängnis. Sie erzählen sich gegenseitig ihr Leben, als Fortsetzungsroman, und wenn einer mit seiner Geschichte zu Ende ist, fängt der nächste mit seiner an.
    Schließlich sagte ich zu Finger, wenn er sich nicht dem Risiko aussetzen wollte, sich unseretwegen in Gefahr zu begeben, könne er auch erst am nächsten Tag kommen. Aber er meinte nur:
    »Keine Sorge, wenn was passiert, stehe ich euch bei.«
    Das erleichterte mich nur bedingt, denn ich wusste, dass die Jungen im Eisenbahnviertel die Alten nichtrespektierten. Oft überfielen sie sie vor ihren Häusern, wenn sie betrunken heimkehrten, schlugen sie zusammen und nahmen ihnen alles ab, was sie dabeihatten, um es dann den anderen wie eine Trophäe zu präsentieren. Außerdem war Finger hier im Viertel keine Autorität, aus seinen Tätowierungen konnte man herauslesen, dass er sich im Gefängnis aus irgendwelchen Gründen den Sibirern angeschlossen hatte: Am Hals trug er eine sibirische Unterschrift, was bedeutete, dass die Gemeinschaft ihn beschützte, vielleicht weil er etwas Wichtiges für uns getan hatte.
    Während ich über all das nachdachte, hatte Finger sich schon angezogen: eine mit Flicken übersäte Jacke, löchrige Schuhe und ein grüner Schal, der fast bis zum Boden reichte.

    Auf der Straße begannen wir uns zu unterhalten. Finger erzählte, dass er im Gefängnis gesessen hatte, seit er sechzehn war – wegen eines dummen Zufalls: Betrunken hatte er, ohne es zu merken, einem Köter ein bisschen zu fest eins mit dem Stock übergezogen, und der andere hatte einen Herzinfarkt bekommen und war gestorben. Im Jugendgefängnis hatte Finger sich der sibirischen Familie angeschlossen, weil sie – wie er sagte – die einzigen waren, die zusammenhielten und die anderen Leute nicht verprügelten, und weil sie als einzige alles gemeinsam taten und niemandem gehorchten. Als er ins Gefängnis für Erwachsene kam, gehörte er schon längst zur sibirischen Familie, und die Alteingesessenen hatten ihn sofort aufgenommen. Er hatte zwanzig Jahre Gefängnis hinter sich, und als er jetzt rauskommen sollte, bot ihm ein Alter die Wohnung an, die wir gesehen hatten.
    Doch nun wollte er zu den Leuten in unserem Viertel: zu seiner Familie, wie er sagte. Deshalb hatte er die altensibirischen Autoritäten im Gefängnis gebeten, sich mit dem Wart der Unterstadt in Verbindung zu setzen.
    Er fühlte sich als Teil unserer Gemeinschaft, und das freute mich.
    Plötzlich kam mir eine Idee. Da wir Verstärkung gut gebrauchen konnten, beschloss ich, bei einem Freund vorbeizuschauen, der nicht weit entfernt wohnte. Er hieß »Dscheka«, was die Koseform von Jewgenij ist. Wir kannten uns von klein auf, er war der Sohn einer sehr fähigen Kinderärztin namens Tante Lora.
    Dscheka war ein gebildeter Junge, aufgeweckt und gut erzogen, er gehörte keiner Bande an und zog ein ruhiges Leben vor. Er hatte viele Interessen, und deshalb gefiel er mir, ich war oft bei ihm zu Hause gewesen und hatte seine Sammlung von Kriegsflugzeugen bewundert, die er selbst zusammenbaute und bemalte. Seine Mutter erlaubte mir, Bücher aus ihrer Bibliothek mitzunehmen, und daher kenne ich Dickens und Conan Doyle und vor allem den einzigen literarischen Helden, der zwar ein elender Köter, mir aber trotzdem sympathisch war: Sherlock Holmes.
    Den ganzen Sommer verbrachte Dscheka mit uns am Fluss, wir hatten ihm beigebracht, wie man schwimmt, ringt und das Messer in einer Prügelei einsetzt. Das einzige Manko war, dass er eine Brille hatte, was bei meinem Großvater unendliches Mitleid auslöste: Eine Brille zu tragen ist für die Sibirer so, als würde man sich freiwillig in einen Rollstuhl setzen, es ist ein Zeichen der Schwäche, eine persönliche Niederlage. Wer nicht gut sieht, darf trotzdem nie eine Brille aufsetzen: um die eigene Würde und ein gesundes Aussehen zu wahren. Als Dscheka das erste Mal bei uns zu Hause war, führte Großvater Boris ihn gleich zum roten Winkel, kniete gemeinsam mit ihm vor den Ikonen der

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