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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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sibirischen Madonna und des sibirischen Erlösers nieder, schlug zigmal das Kreuzzeichenund sprach sein Gebet, das Dscheka Wort für Wort wiederholen musste:
    »O Mutter Gottes, Heilige Jungfrau, Schutzherrin Sibiriens und Beschützerin von uns armen Sündern! Hilf dem Wunder Unseres Herrn! O Herr, Erlöser und Gefährte im Leben und im Tod, der Du unsere Waffen und unsere erbärmlichen Bemühungen segnest, Dein Gesetz in die sündige Welt zu bringen, der Du uns im Angesicht des Höllenfeuers Stärke gibst, verlass uns nicht in den Momenten der Schwäche! Nicht aus ungenügendem Glauben, sondern aus Liebe und Respekt gegenüber Deinen Geschöpfen bitte ich Dich, vollbringe ein Wunder! Hilf Deinem elenden Diener Jewgenij, Deinen Weg zu finden und in Frieden und Gesundheit zu leben, um von Deinem Ruhm zu singen. Im Namen der Mütter, der Väter, der Söhne und unserer in Deinen Armen Auferstandenen, erhöre uns und bringe Dein Licht und Deine Wärme in unsere Herzen! Amen!«
    Nach dem Gebet wandte Großvater Boris sich Dscheka zu. Mit feierlichen, theatralischen Gesten berührte er mit den Fingern die Brille und zog sie ihm langsam ab, wobei er den folgenden Satz sprach:
    »Wie oft hast Du meinen Händen Deine Kraft geliehen, um das Messer gegen die Köter zu führen, hast Du meine Pistole geführt, damit ich sie mit den von Dir gesegneten Kugeln treffe, so gib mir auch diesmal Deine Macht, um die Krankheit Deines demütigen Dieners Jewgenij zu besiegen!«
    Nachdem er ihm die Brille abgezogen hatte, fragte er Dscheka:
    »Und jetzt sag mir, mein Engel, kannst du wieder sehen?«
    Aus Respekt brachte Dscheka es nicht übers Herz, nein zu sagen.
    Großvater Boris wandte sich wieder den Ikonen zu und dankte dem Herrn mit den üblichen Formeln:
    »Dein Wille geschehe, Herr! Solange wir leben und Du uns beschützt, wird das Blut der Köter, der schändlichen Teufel und der Diener des Bösen in Strömen fließen! Wir danken Dir für Deine Liebe!«
    Sodann rief er die ganze Familie zusammen und verkündete, dass ein Wunder geschehen war. Schließlich gab er vor aller Augen Dscheka die Brille zurück und sagte:
    »Und nun, mein Engel, nun wo du sehen kannst, zerbrich diese unnütze Brille!«
    Aber Dscheka steckte sie nur in die Tasche und murmelte:
    »Nicht böse sein, Großvater Boris, das mache ich irgendwann später.«
    Mein Großvater strich ihm über den Kopf und sagte mit sanfter, freudiger Stimme:
    »Zerbrich sie, wann du möchtest. Hauptsache, du ziehst sie nie mehr an.«
    Um nicht Großvaters Zorn auf sich zu ziehen, kam Dscheka das nächste Mal ohne Brille zu uns, er zog sie einfach vor der Tür ab, bevor er hereinkam. Als Großvater Boris ihn sah, freute er sich wie ein Schneekönig.

    Um auf uns zurückzukommen: Dscheka lebte mit seiner Mutter und einem Onkel mit einer unglaublichen Lebensgeschichte. Er war so was wie die Verkörperung des göttlichen Zorns, der lebende Fluch, der auf dieser freundlichen und anständigen Familie lastete. Er hieß Iwan, und die Leute hatten ihm den Beinamen »der Schreckliche« gegeben. Der Vergleich mit dem großen Tyrannen war ironisch gemeint, denn Iwan war ein herzensguter Mensch. Er war um die fünfunddreißig, klein und mager, hatte schwarzes Haar und schwarze Augen undunglaublich lange Finger. Er war Berufsmusiker gewesen, aber irgendwann fiel er in Ungnade; mit achtzehn spielte er Geige in einem bedeutenden Orchester in Sankt Petersburg, und der Fortgang seiner Musikerkarriere schien unaufhaltsam wie eine sowjetische Interkontinentalrakete. Doch eines Tages war Iwan mit irgendeiner Nutte aus dem Orchester ins Bett gegangen, einer Cellistin, die leider die Ehefrau eines hochrangigen kommunistischen Parteikaders war. Er verlor ihretwegen den Kopf, machte ihr Verhältnis öffentlich und bat sie sogar, sich von ihrem Mann zu trennen. Armer, naiver Musiker, er wusste nicht mal, dass Parteikader überhaupt nicht das Recht hatten, sich scheiden zu lassen, weil sie und ihre Familien ein Beispiel für die perfekte »Zelle« der sowjetischen Gesellschaft sein sollten. Und was ist das für eine Zelle, in der man sich einfach mal so scheiden lässt? Unsere Zellen müssen hart wie Stahl sein, das heißt wie das Material, aus dem unsere Panzer und die berühmten Kalaschnikow-Sturmgewehre hergestellt werden. Hat einer schon mal einen fehlerhaften sowjetischen Panzer gesehen? Oder eine Kalaschnikow mit Ladehemmung? Unsere Familien müssen so perfekt sein wie unsere Waffen.
    Deshalb wurde der

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