Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
stieß ihn ins Dunkel hinein, dann schloss er die Tür und verbarrikadierte sie. Von drinnen kam ein verzweifeltes Wimmern:
    »Lasst mich nicht allein, bitte, lasst mich nicht allein!«
    »Halt’s Maul, sei ein Mann. Und bete zum Herrn für uns, sonst bist du tot!«Fingers Haus war eine Ecke weg, etwa eine Viertelstunde zu laufen. Wir mussten versuchen, keine Aufmerksamkeit zu erregen, doch mit jedem Schritt, den wir ins Eisenbahnviertel vordrangen, schwand unsere Chance, aus dieser Sache heil herauszukommen, weiter.
    Unterdessen grübelte ich darüber, was dieser Schwachkopf Geier sich für uns ausgedacht haben mochte, und ich war fast ein bisschen neugierig. Ich wollte unbedingt herausfinden, welchen Tod man mich im Eisenbahnviertel sterben lassen wollte. Ich hatte keine Angst, ich war aufgeregt, wie beim Glücksspiel. Mel lief seelenruhig dahin, nichts wies auf einen inneren Dialog hin. Er hatte den gleichen leeren Gesichtsausdruck wie immer, ab und zu schaute er mich an und grinste ein wenig.
    »Wieso lachst du so? Hast du nicht begriffen, dass wir in der Scheiße sitzen?«, fragte ich und versuchte ihm ein bisschen Angst einzujagen. Nicht aus Bosheit, nur so, damit er den Ernst der Lage begriff.
    Aber vergeblich, er war unerschütterlich, er lächelte sogar noch mehr. »Die machen wir alle fertig, Kolima«, frohlockte er. »Das wird ein Schlachtfest, ein Meer aus Blut!«
    Ein Schlachtfest wollte ich ja gerade vermeiden.
    »Solange es nicht unser Blut ist ...«, antwortete ich, aber er hörte mich gar nicht, er ging dahin wie einer, der beschlossen hat, die halbe Menschheit auszurotten.
    Unbehelligt kamen wir zu dem Haus, in dem Finger wohnte, stiegen in den zweiten Stock hinauf und blieben vor seiner Tür stehen. Mel hob die Hand, um zu klingeln, aber ich stoppte ihn. Ich warf einen Blick durchs Schlüsselloch, das schön groß war. Man sah einen verdreckten Flur, eine brennende Glühbirne hing herunter, als hätte jemand sie absichtlich runtergezogen. Am Ende des Flurs, vor einem laufenden Fernseher, war ein magerer Mannmit kurzgeschorenen Haaren dabei, sich mit einer Rasierklinge die Fußnägel zu schneiden, wie im Gefängnis.
    Ich richtete mich auf und sagte zu Mel:
    »Sieh nach, ob du den Brief noch hast, und klingele. Wenn Finger aufmacht, sagst du Guten Tag und stellst erst dich vor, dann mich. Sag nicht gleich was von dem Brief ...«
    Bevor ich fertig war, unterbrach Mel mich:
    »Willst du mir jetzt auch noch sagen, wie ich aufs Scheißhaus gehen soll? Das ist doch nicht das erste Mal, dass ich einen Brief überbringe, ich weiß, wie man sich da benimmt!«
    Mel drückte auf den Klingelknopf. Die Klingel machte ein komisches Geräusch, abgehackt, als hätte sie einen Wackler. Bei jedem von Fingers Schritten knarrte der Holzboden. Die Tür ging auf, einfach so, sie war nicht abgeschlossen. Vor uns stand ein Mann um die vierzig, der am ganzen Körper Tätowierungen hatte. In seinem Mund funkelten Eisenzähne wie Juwelen. Er trug ein Unterhemd und eine dünne Hose, mit nackten Füßen stand er auf dem eisigen Fußboden.
    In der Wohnung war es so kalt, dass wir sahen, wie sein Atem zu weißem Dampf kondensierte. Er sah uns ruhig an, er schien in Ordnung zu sein. Er wartete.
    Mel sah ihn die ganze Zeit an, ohne etwas zu sagen. Der Mann hob die Hand und kratzte sich am Hals, wie um uns zu verstehen zu geben, dass er sich unwohl fühlte wegen unseres Schweigens.
    Ich gab Mel einen leichten Tritt, und als hätte ich den Schalter umgelegt, spuckte er jetzt die Worte aus wie ein MG die Kugeln. Er hielt sich genau an die Vorgabe: Nach der Begrüßung sagte er, er habe einen Brief.
    Sofort veränderte sich Fingers Gesicht, er lächelte und bat uns herein. Er führte uns an einen Tisch, auf dem ein Topf mit frischem Tschifir stand.
    »Hier, Jungs, bedient euch. Entschuldigt, aber ich hab nichts anderes, nur das. Ich bin gerade erst raus, seit vorgestern ... Das ist ja was, die Freiheit, so viel Platz, mir schwirrt noch der Kopf ...«
    Mir gefiel seine Ironie, ich merkte, dass ich entspannen konnte.
    Wir setzten uns und sagten, dass er wegen uns keine Umstände zu machen bräuchte. Während wir den Tschifir-Becher kreisen ließen, öffnete Finger den Brief unseres Warts. Nach einer Weile sagte er:
    »Ich muss mit euch in euer Viertel, da steht, dass sie mich zu einem Gespräch einladen ...«
    Mel und ich schauten uns an. Wir mussten ihm unbedingt von unserem Abenteuer erzählen, man kann nicht jemanden mitnehmen, der

Weitere Kostenlose Bücher