Sibirische Erziehung
Dscheka, der seine gebrochene Hand mit der anderen an die Brust drückte. Dahinter Fima, der im Rennen Flüche schrie, und hinter ihm Iwan, still und konzentriert. Auch ich rannte, trotz der Schmerzen, wie ein Irrer und wusste überhaupt nicht wieso: Vielleicht hatte uns diese plötzliche Attacke, gerade als wir uns in Sicherheit fühlten, ein neues Fieber eingejagt.
Mel folgte mir, er wäre schneller gewesen, aber ermachte sich Sorgen, weil ich nicht so schnell rennen konnte wie sonst, die lädierte Seite tat höllisch weh.
Endlich erreichten wir die Grenze zu unserem Viertel, wurden langsamer und blieben schließlich stehen, mitten auf der Straße, die zum Fluss führte. Drei Freunde tauchten auf, die gerade Wache standen. Wir erzählten ihnen kurz, was passiert war, und einer machte sich sofort auf den Weg, um den Wart zu informieren.
Wir kamen bei mir zu Hause an. Meine Mutter saß mit Tante Irina, Mels Mutter, in der Küche. Sie hatten sich schon Sorgen gemacht, und als wir nun hereinkamen und sie sahen, wie wir zugerichtet waren, blieben sie wie erstarrt auf ihren Stühlen sitzen.
»Was ist denn mit euch passiert?«, stammelte meine Mutter.
»Nichts, wir hatten ein bisschen Stress, nichts Schlimmes ...«, antwortete ich und rannte ins Bad, damit sie die zerrissene Jacke nicht sah und um mir die blutigen Hände zu waschen. »Mama, hol Onkel Witalij«, sagte ich, als ich wieder in die Küche kam. »Wir müssen Dscheka ins Krankenhaus bringen, er hat sich den Arm gebrochen ...«
»Seid ihr verrückt? Was soll das heißen, er hat sich den Arm gebrochen? Habt ihr euch geprügelt?«, fragte meine Mutter zitternd.
»Nein, Tante Lilja, ich bin hingefallen, ein Unfall ... Ich hab nicht aufgepasst.« Armer Dscheka, er versuchte die Situation zu retten, aber seine Stimme klang, als käme sie aus dem Jenseits.
»Wenn du hingefallen bist, wieso hat Mel dann einen blauen Fleck im Gesicht?«, fragte meine Mutter. Sie hatte eine ganz eigene Art auszudrücken, dass sie uns für Schwindler hielt.
»Tante Lilja«, wandte Mel, das Genie, sich an meine Mutter, »wissen Sie, wir sind alle zusammen hingefallen ...«
Für diesen netten Versuch fing er sich ein paar Ohrfeigen von Tante Irina.
Ich ging zurück ins Bad und schloss mich ein. Ich machte Licht, und als ich mich sah, rutschte mir das Herz in die Hose: Das ganze rechte Bein war blutverschmiert. Ich zog mich aus und drehte die schmerzende Seite zum Spiegel. Da, da war er: ein winziger Schnitt, keine drei Zentimeter lang, aus dem eine abgebrochene Klinge herausschaute. Ich nahm die Augenbrauenpinzette meiner Mutter, und in diesem Augenblick klopfte es an die Tür.
»Mach auf, Nicolai.«
»Ich komm gleich raus, Mama, ich wasch mir nur schnell das Gesicht!«
Ich packte die Klinge und zog vorsichtig. Während ich zusah, wie sie langsam herauskam und immer länger wurde, spürte ich, wie mir der Kopf schwer wurde. Auf halber Strecke hielt ich inne, drehte den Wasserhahn auf und wusch mir die Stirn. Dann packte ich die Klinge erneut und zog sie ganz raus. Ich traute meinen Augen nicht: Sie war beinahe zehn Zentimeter lang. Es war ein Stück von einer Eisensäge, die von beiden Seiten per Hand so scharf wie eine Rasierklinge geschliffen worden war und eine dünne, zerbrechliche Spitze hatte. Die Waffe hatten sie mit Absicht so präpariert, damit sie im Fleisch abbrach und noch mehr Schmerzen verursachte.
Die Wunde blutete. Ich öffnete das Arzneischränkchen und verarztete mich, so gut es ging: ein bisschen Wundsalbe auf den Schnitt und einen Druckverband drumherum, um das Blut zu stoppen. Kleider und Schuhe warf ich aus dem Fenster und zog Klamotten aus dem Schmutzwäschekorb neben der Waschmaschine an. Dann wusch ich das Messer, trocknete es ab und ging wieder zu ihr.
Mel und Tante Irina waren schon gegangen, dafür war Onkel Witalij gekommen, er hielt den Autoschlüssel in der Hand und wollte Dscheka ins Krankenhaus fahren.
Fima und Iwan saßen am Küchentisch, meine Mutter hatte ihnen Suppe mit Sauerrahm und Schmorbraten mit Kartoffeln vorgesetzt.
»Also, du Unfaller, was habt ihr noch angestellt?«, fragte der wie immer gutgelaunte Onkel Witalij.
Ich fühlte mich kraftlos und war nicht zu Scherzen aufgelegt.
»Ich erzähl’s dir später, Onkel, eine größere Geschichte.«
»Musstest du dir ausgerechnet an deinem Geburtstag Scherereien einhandeln? Deine Freunde sind alle schon betrunken, sie warten auf dich ...«
»Keine Fete, Onkel, ich halte mich kaum
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