Sibirisches Roulette
Wodka wie ein Verdurstender an einer Quelle. »Fallen Sie um, Victor Ifanowitsch, dann ist alles erledigt.«
Noch eine zweite Flasche tranken sie, dann schwebten sie zwischen Himmel und Erde, bis es dunkel wurde um sie und nichts übrig blieb als ein schnaufendes, knatterndes Schnarchen.
Jugorow löste sich zufrieden von der Wand, rollte das Stethoskop zusammen und hatte nun Zeit genug, gefahrlos mit Filaret zu sprechen. Es wurde ein langes Gespräch über die Pläne der nächsten Zeit.
Nasarow überlebte die Operation, aber die Besinnung kam noch nicht zurück.
An seinem Bett standen Mamjelew und zwei andere Offiziere, blickten in das bleiche, erschreckend klein gewordene Gesicht ihres Kommandeurs und hörten Walja Borisowna zu, die ihnen berichtete.
Was sie sagte, erreichte sie kaum. Ob Nasarow nun lebte oder sterben würde, war weniger wichtig als die Frage: Wer hat es getan? Wer hatte das Messer geworfen, das Spezialmesser mit versenkbarer Klinge? Solch ein Ding hatte noch keiner gesehen, und Mamjelew war der Ansicht, es sei eine Einzelanfertigung und nirgendwo zu kaufen.
»Der Mörder sitzt in Lebedewka!« erklärte Mamjelew mit einer Sicherheit, als kenne er ihn bereits. »Nur von dort kann er kommen! Aus dem Kreis der Geiselfamilien. Man sollte sie alle verhaften. Wie bei einem Sieb wird's sein: Schüttelt es, und das Gesuchte bleibt hängen. Was sagen Sie dazu, Genossin Ärztin?«
»Nicht noch mehr Unglück, wir haben genug davon.« Müde war sie, mit geröteten Augen und bebenden Mundwinkeln. Die ganze Nacht hatte sie neben Nasarow gewacht, die physiologische Kochsalzinfusion dreimal erneuert, den Kreislauf kontrolliert, herzstärkende Spritzen gegeben – alles hatte sie getan, was medizinisch möglich war. Nun konnte man nur noch warten, wie Nasarows Körper reagierte; ob er die innere Kraft besaß, neue Lebensimpulse zu mobilisieren.
Gegen Morgen war Schemjakin in das Hospital gekommen und hatte Nasarow betrachtet. Er sah nicht so aus, als ob er den Vormittag noch schaffen würde.
»Komm nach Hause, Töchterchen«, sagte Schemjakin leise. »Hier kann auch ein anderer Wache halten.«
»Ich will dabeisein, Vater …«
»Warum?«
»Operiert habe ich ihn. Es war meine erste Operation …«
»Du bist doch eine Ärztin, Waljaschka.«
»Für Innere Medizin … Das letzte Mal, wo ich ein Skalpell in der Hand hielt, das war auf der Universität. Beim Präparieren an der Leiche, im Anatomiekurs.«
»So etwas vergißt man nicht.«
»Geekelt habe ich mich immer. Jeder Schnitt verursachte Übelkeit … Natürlich weiß ich, wo die Venen und Arterien liegen, wie die Muskeln heißen, wo die Nervenstränge sind – an einer Leiche, Vater! Bei einem Toten! Das ist anders, als am lebenden Menschen zu operieren. Schneidet man mal daneben … Verzeihung, er spürt's nicht mehr, ist ja tot … Einen Lebenden jedoch kann man zu Tode operieren. Darauf warte ich.« Sie blickte auf, ihre Augen wirkten trübe, wie leer. »Es war das erste blutende Fleisch, in das ich hineingeschnitten habe, Vater. Geh zurück zu Mamuschka, bitte! Laß mich hier warten.«
Schemjakin verließ schweigend das Krankenzimmer. Das leise Röcheln von Nasarow begleitete ihn. Er ist schon tot, dachte er, nur das Herz schlägt noch. Das gibt es, daß man tot ist, obwohl das Herz noch schlägt, ganz schwach, ganz leise … die Hirnzellen sterben ab, keinen Sauerstoff gibt's mehr … man ist tot, aber das Herz schlägt noch. So oder ähnlich hab' ich's mal gelesen.
Später kam Jugorow zu Walja, die nach hinten gelehnt auf dem Stuhl saß, den Kopf im Nacken, und vor Erschöpfung schlief. Aber Nasarow lebte noch.
Leise zog Jugorow die Infusionsnadel von der Stammnadel, nahm die leere Flasche weg, hängt eine neue an den Galgen und verband sie wieder mit der Vene von Nasarow. Die Tropfgeschwindigkeit stellte er neu ein, gab Walja ganz vorsichtig einen Kuß auf die geschlossenen Augen und schlich sich wieder aus dem Zimmer. Erst beim Erscheinen von Mamjelew und den anderen Offizieren schreckte Walja hoch; ein Sanitäter stieß sie an und rief ihren Namen.
»Etwas muß geschehen, Genossin Ärztin!« sagte Mamjelew jetzt und blickte wieder seinen wachsbleichen Kommandeur an. »Auf dem richtigen Weg war er: Die Geiseln wissen mehr. Aus ihnen herauspressen muß man es. Keinen Sinn hat's nun noch, human zu sein wie Sie, Genossin.«
»Was sind Sie nur für ein Mensch, Leutnant?« sagte Walja müde und legte sich ein feuchtes Tuch über die Augen,
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