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Sibirisches Roulette

Sibirisches Roulette

Titel: Sibirisches Roulette Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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blieb am Gitter vor Jugorow sitzen, und Federchen begann sofort mit Ilja das Kräftespiel.
    Zehn Hunde und zehn verschiedene Charaktere – wie bei den Menschen. Keiner glich dem anderen. Reine Individualisten, und doch ordneten sie sich einem Leithund unter. Menschenähnlich auch das! Wer aber war der Leithund? Errang man seine Liebe und seinen Respekt, wurde man zum Oberleithund, gab's keine Probleme mehr mit dieser Meute. Der Rudelchef stand fest; ein Boß, der nicht die kleinste Schwäche zeigen durfte.
    Jugorow holte den Eimer Fleisch, blieb hinter der Tür stehen und wartete. Sie rochen ihn sofort, den Blutgeruch, witterten das Fleisch. Die Lefzen zogen sich hoch, heiser wurde das Gebell, zehn Hundeleiber strafften sich, die spitzen Schnauzen kamen nach vorn … Welch eine Kraft, welch eine Schönheit! dachte Jugorow und blickte in die glitzernden Augen der Tiere. Dann aber stürmten sie los, hin zu dem Blutgeruch, und als Jugorow ein Stück Fleisch aus dem Eimer nahm und es hoch hielt, ohne daß sie es fassen konnten, da war es, als schrien die Hunde auf. Und dann geschah das, worauf Jugorow wartete.
    Ein Hund, gar nicht mal der größte von allen, stieß einen Laut aus, den alle anderen sofort verstanden. Die Ohren legten sie an, schielten zu ihm hin, hechelten und stemmten die Beine auf die Erde.
    Fasziniert sah Jugorow, wie Ilja, unangefochten von der Meute, allein zu ihm kam, ihn ansah mit ihren großen, braunen Augen, in denen auch noch ein Schimmer Grün lag, und verhalten knurrte. Gib her, hieß dies, und man verstand sich gleich. Wirf's hinein … für mich ist das erste Stück.
    »Ilja, der Leithund«, sagte Jugorow, und seine Stimme klang zärtlich. »Ilja, mein Junge, du bist's? Nun haben wir keine Sorgen mehr, mein Kerlchen … Das Lager sollt ihr bewachen, gut so. Ihr bewacht's für mich!«
    Nicht durch das Gitter warf er Ilja das Fleisch in den Rachen – nein, er öffnete die Tür, schlüpfte in den Zwinger und hielt Ilja das Stück hin. Jetzt gibt's nur eins, dachte Jugorow dabei, nur eine Alternative: entweder er nimmt dir das Fleisch aus der Hand oder er zerreißt dich. Vabanque, Ilja … ein anderes russisches Roulette, auf sibirische Art.
    Ilja, der Leithund, starrte auf das blutige Fleisch in Jugorows Hand. Fast zu sehen war's an seinen Augen, an seinem Muskelspiel, am leichten Wippen des Schwanzes, was er dachte. Und dann geschah es: Auf die Hinterbeine richtete sich Ilja auf, warf die Vorderbeine abstützend an Jugorows Brust, schob die Schnauze vor und nahm vorsichtig, ganz vorsichtig, die Hand kaum berührend, das Fleisch aus Jugorows Fingern.
    Jugorow hatte den Atem angehalten, jetzt ließ er wieder viel Luft in seine Lungen.
    »Mein Braver …«, sagte er mit etwas rauher Stimme. »Mein Ilja … mein Freundchen … nun haben wir gewonnen.« Und obwohl Ilja knurrte – ein Hund will beim Essen nicht gestört werden –, streichelte er ihn über den Kopf, den Nacken, den Rücken, und Ilja legte sich ihm zu Füßen und leckte seine Pfoten. Die Meute stand mit offenen Mäulern, hechelnd, um sie herum. Der Oberleithund war erkannt worden.
    Der Reihe nach warf Jugorow die Fleischstücke dem Rudel zu, keinen übergehend, keinem einen Bissen mehr gebend. Nur Ilja bekam ein Sonderstück, neidlos wurde es von allen anderen anerkannt. Es stand ihm zu. Er war der Herr des Rudels … Ist's beim Menschen anders?
    Zufrieden, ja glücklich verließ Jugorow den Zwinger und schloß hinter sich die Tür ab. Zehn Meter weiter, an ihren Jeep gelehnt, erwartete ihn Walja Borisowna. Eine Pistole hielt sie in der Hand, die Lippen zusammengekniffen.
    »Tatsächlich, ein Verrückter bist du!« sagte sie gepreßt. »Alle hätte ich erschossen. Alle …«
    »Warum die Menschen immer schießen müssen!« Jugorow legte den Arm um Waljas Schulter und nahm ihr die Pistole aus der Hand. »Mit Liebe ist es leichter und dauerhafter. Da zähmt man sogar eine wilde Ärztin.«
    »Scheusal!« Sie schüttelte seinen Arm ab, drehte sich um und ging zum Hospital. Jugorow sah die Pistole an, steckte sie in seine Tasche und ging noch einmal zurück zum Zwinger. Die Hunde begrüßten ihn wieder mit Gebell, aber es klang anders, freudiger, vertrauter. Wer's noch nicht weiß: Auch Hunde haben eine Sprache.
    Auf dem Weg zur Kantine, wo Jugorow ein Bier trinken wollte – die Kehle war ihm doch trocken geworden, das Bier würde mit einem einzigen Schluck verschwinden –, begegnete er den ›Zwillingen‹ Krasnikow und

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