Sibirisches Roulette
»Igor Michailowitsch, du opferst uns für deine Pläne …«
»Was denn für Pläne?« Trofimow warf einen bösen Blick auf Jugorow. »Wieso kann er Pläne haben?«
»Was glaubst du denn, Vater, wer Jugorow ist?«
»Ein netter Bursche, ein Rindvieh, ein lästiger Kerl, ein Phantast, ein Blinder, der meine Soja nicht richtig sieht, ein Traktorfahrer, ein ruheloser Wanderbursche …«
»Das Wichtigste hast du vergessen, Vater: Er ist der große Unbekannte. Der Adler.«
»Mein Gott. Oh, lieber Gott …« Der Alte sank auf die Bank zurück und stierte Jugorow an. »Du bist das? Und alle in Lebedewka wissen es, nur ich nicht?! Keiner sagt mir was, da siehst du's. Ausgestoßen sind wir von allem; nur die Luft zum Leben können sie uns nicht nehmen … Du … du … bist der Spezialist?!« Trofimow schlug beide Hände vor sein Gesicht und schwankte im Sitzen. »Und er … er nimmt mir mein Haus weg … Wirklich, wir sind Verfluchte! Verfluchte! Verfluchte!«
»Warum tust du das?« In Sojas Stimme klang eine große Traurigkeit.
»Euer Kreml wird zweihundert Jahre weiterbestehen, so wie er zweihundert Jahre lang gewesen ist.« Jugorow sah, daß sie ihm nicht glaubte, und der alte Trofimow schabte mit den Stiefeln über die Dielen, als wolle er zu einem Sprung ansetzen, um Jugorow den Hals umzudrehen. Was sind schon Worte, was sind Beteuerungen wert? »Es geht darum, Krasnikow und Meteljew zu täuschen, sie seien jetzt aufgenommen in unsere Gruppe …«
»Auf Kosten unserer Knochen!« schrie Trofimow. »Wie soll's denn weitergehen?«
»Krasnikow und Meteljew kehren nicht zurück.«
»Aha!« Der Alte bekam plötzlich blitzende Augen. »Erschießen und in den Sumpf mit ihnen!«
»Nicht alles möchte ich den Sümpfen überlassen«, sagte Jugorow und vermied es, Soja anzusehen. »Und fürs Töten bin ich gar nicht. Verschwinden werden sie, einfach nicht mehr dasein … verschollen …«
»Wie Masuk«, sagte Soja bestimmt.
»Nicht töten!« schimpfte der Alte. »Sollen wir sie mästen? Wie lange, und was dann? Lebenslänglich? Wer kann sich solchen Wahnsinn ausdenken?« Trofimow hämmerte mit den Fäusten wieder auf den Tisch. »Ein Vorschlag, Igor Michailowitsch: Du befreist die Geiseln, die Geiseln werden von Krasnikow und Meteljew zu uns gebracht, und dann drehst du dich um, gehst ins Bett zu Walja, schläfst einen guten Schlaf und fragst nicht mehr nach den beiden Geologen. Ist das nicht vernünftig?«
»Und ihr bringt Krasnikow und Meteljew um …«
»Du sollst nicht fragen, Kerlchen! Getan wird, was ich meinem Hause schuldig bin. Dem Haus und Soja … Du hast damit nichts mehr zu schaffen.« Trofimow stützte die Arme auf die gespreizten Schenkel und starrte Jugorow fordernd an. »Sauber wird dein zartes Gewissen sein. Und wenn du einmal vor Gott stehst, kannst du sagen: Ein weißes Lämmlein bin ich, sanft und rein …«
Der Alte lachte dröhnend, verschluckte sich dabei heftig und ruderte mit den Armen nach Luft. Soja lief zu ihm, klopfte ihm auf den Rücken, mit flachen Händen, sehr kräftig. Wie Schläge klatschte es, Trofimow schien's gewöhnt zu sein. Die Augen verdrehte er, sein Kopf schwoll an – und dann tat er einen langen, röchelnden Atemzug und hatte den Husten überwunden.
»Daran krepier' ich noch!« keuchte er. »Die Lunge, Jugorow, der Magen, das Herz … alles nur noch Schrott. Wenn's keinen Wodka gäbe, der alles zusammenleimt, wo wäre ich da schon?« Er nahm das Thema wieder auf. »Sei ein Lämmchen und übergib uns Krasnikow und Meteljew. Einfacher kann man's dir doch nicht machen!«
Jugorow zögerte lange. Schweigend stand er am Fenster und starrte hinaus auf den Garten, den Bach, die kleinen Felder und die Hühner, die im Boden scharrten; auf die beiden Schweine in ihrem Auslauf mit dem Zaun aus Knüppelholz und die falbenfarbige Kuh, die frei herumtrottete. Und auf den Pfad, der hinüber zu dem kleinen See führte.
Es war unausweichlich, jetzt mußte die Entscheidung fallen. Ein einziges Wort, das zwei Menschenleben kostete. Ein Wort, das wichtig war für den Weg zum großen Ziel. Ein Opfer, das nicht das erste war und nicht das letzte sein würde. Wo gibt es Kriege ohne Blut? Und dies hier war ein Krieg; ein seltsam stiller, unbekannter, fanatischer Krieg von wenigen Menschen gegen die alles befehlende, alles beherrschende Macht des Kreml in Moskau. Ein verzweifelter Krieg gegen die Zerstörung des Landes und um das Überleben. Ein der Öffentlichkeit verborgener, lautloser
Weitere Kostenlose Bücher