Sibirisches Roulette
Deckenlicht an. »Schlafen Sie nicht, als ob Sie ein ruhiges Gewissen hätten! Einen Hinweis habe ich bekommen. Wie stehen Sie zu Maja Petrowna, meiner Frau?«
Erst nach dieser Frage sah Niktin, daß Nasarow verbunden und bandagiert im Bett lag, ganz ruhig, tief schlafend, regungslos … Das einzige, was ungewöhnlich und erschreckend wirkte, waren die offenen glasigen Augen, die keinen Blick, kein Leben mehr hatten.
»Leonid Antonowitsch …«, stotterte Niktin und kam langsam näher. »O Himmel, was ist mit Ihnen? Genosse Major …«
Er beugte sich über Nasarow, erkannte, daß er mit einem Toten gesprochen hatte, und zuckte zurück. Von jeher hatte Niktin eine Scheu vor Toten gehabt; sie taten ihm zwar nichts, waren die ruhigsten Menschen, nur noch eine Hülle ihres Wesens, aber als er zum erstenmal einem Toten gegenübergestanden hatte, war es Sommer gewesen und der ganze Raum erfüllt von einem süßlichen Verwesungsgeruch … da hatte er sich draußen an die Wand gelehnt und sich erbrochen … niemals konnte er dies vergessen, und seitdem war es wie ein eigener halber Tod für ihn, wenn er einen Leichnam sah.
Auch jetzt warf er sich herum, rannte aus dem Zimmer, hinaus auf die Straße, und schrie mit schriller Stimme:
»Hierher! Hierher! Der Major ist tot … tot ist er … Nasarow tot … Hierher!«
Der arme Mamjelew, der noch bei den erschossenen Posten stand und Befehle schrie wie: »Zurück zur Baubrigade! Die erste Kompanie sucht die Umgebung ab! Die zweite Kompanie fertigmachen zum Einsatz!«, was soviel hieß wie: mit allen Waffen ausrücken – er begriff zunächst nicht, was Niktin brüllte.
»Wo ist der Major?« rief er, noch ahnungslos, zurück.
»Tot! Tot! Tot!« kreischte Niktin. »Liegt tot im Bett. Verbunden und verpflastert. Was ist hier geschehen?!«
Mamjelew warf seine Mütze weg, raufte sich die Haare, stierte Niktin mit rotumränderten Augen an, rannte zur Kommandantur, stürzte in Nasarows Zimmer und blieb vor dem Toten stehen. Völlig entnervt, tat er zunächst das, was einem Offizier am nächsten liegt: Er nahm stramme Haltung an und salutierte vor dem Toten mit militärischem Gruß. Das beruhigte ihn ein wenig; eine gute militärische Ausbildung macht aus Menschen Männer. Man soll solche Behauptungen nie wegwerfend unterschätzen.
Nach dieser stummen Ehrung setzte Mamjelew sich ans Telefon und alarmierte alle, die ihm in den Sinn kamen. Zunächst Walja Borisowna als Ärztin, die den Tod fachmännisch dokumentieren mußte. Dann die Kommandantur in Tobolsk, die General Pychtin zum zweitenmal in dieser Nacht aus dem Schlaf holte. Darauf den KGB, den Genossen Bacharew, der wie ein Kosak fluchte – nicht wegen der Tragödie dort am Tobol, sondern weil er nun wieder aus den warmen Armen seiner Geliebten, der Folkloresängerin Elina, gerissen worden war. Zuletzt eine gewisse Ruta Schubina, Sekretärin in der Stadtverwaltung, die seit vier Monaten Nasarows Abendunterhaltung war. Sie weinte sofort, schluchzte herzzerreißend, legte den Hörer auf und sagte mit einem tiefen Atemzug: »Endlich!«
Eine halbe Stunde später traf Walja Borisowna im Militärlager ein. Mit ihr waren Jugorow, Krasnikow und Meteljew gekommen, alle drei ziemlich mit Wodka aufgefüllt und auf die unbekannte Mörderbande fluchend.
Bei den toten Posten vor dem Geiselzelt, die man in einer Baracke aufgebahrt hatte, war Waljas Untersuchung schnell beendet. Die Einschüsse, jeder zweimal präzise ins Herz, waren deutlich genug.
»Ein vortrefflicher Schütze«, sagte Jugorow, als man die Toten wieder zudeckte. »Wenn man bedenkt, wie schnell der Überfall stattgefunden haben muß – und dann vier Treffer in die Herzen. Das muß schon fast ein Kunstschütze gewesen sein.«
Er sah dabei Krasnikow und Meteljew an, aber keiner von ihnen reagierte. Mit alkoholflatterndem Blick hatten sie die Toten angesehen, teilnahmslos und nicht einmal staunend, und drehten sich jetzt weg. Jugorow senkte den Kopf. Die Vollstrecker der GRU. Die Meister des Tötens, die nach ihm, dem ›Spezialisten‹, suchten.
Weitaus komplizierter war es, die Ursache von Nasarows Tod festzustellen. Auch Walja sagte bei seinem Anblick, genau wie vorher Niktin: »Was ist denn hier geschehen? Er ist ja eingewickelt wie eine Mumie. Leutnant Mamjelew … antworten Sie!«
»Warum fragen Sie mich, Genossin Ärztin? Was weiß ich denn? Nichts weiß ich! Der Genosse Major kam gestern morgen von einer Erkundungsfahrt zurück, ließ den Sanitäter kommen
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