Sibirisches Roulette
wir vorsichtiger: Sie waren der letzte, der bei ihm gewesen ist.«
»Wenn Sie so wollen, Krasnikow … aber nicht als letzter war ich bei ihm, sondern als erster.«
»Als erster nach dem Attentat im Baulager, das stimmt. Aber als die Rotarmisten ausrückten, lebte Nasarow noch. Mamjelew kann das bestätigen, er bekam noch Instruktionen von Nasarow. Und dann?«
»Was dann, Victor Ifanowitsch?«
»Wie ein Irrer überholten Sie mit einem Jeep die zurückkehrende Militärkolonne, rasten zur Kommandantur, und während sich alle um die beiden ermordeten Posten kümmerten, stürmten Sie zu Nasarow.«
»So war es. Ganz richtig.«
»Und plötzlich erschienen Sie wieder auf dem Platz, schrien, Nasarow sei tot, und benahmen sich wie ein Verrückter.«
»Der Schock, Krasnikow. Komme ins Zimmer, will mit dem Major sprechen, und er liegt da, starrt an die Decke und sagt keinen Mucks mehr. Tot! Bekommt man da nicht einen Schrecken? Ruft man da nicht um Hilfe?«
»Wie lange waren Sie mit Nasarow allein?«
»Zwei, drei Minuten, länger nicht.«
»Welch ein Gebirge von Zeit! Man kann einen Menschen in einer Sekunde töten … nein, Sie nicht, Niktin. Ihnen gestehe ich eine volle Minute zu. In einer Minute kann das möglich sein.«
Niktin begriff noch immer nicht, in welche Richtung Krasnikow ihn treiben wollte. Ein reines Gemüt sieht einen geraden Weg; die Schatten jenseits der Straße liegen nicht in seinem Blick.
»Ich dachte erst, er schläft«, fuhr Niktin in seiner Harmlosigkeit fort. »Wie kann ein Mensch bloß schlafen, wenn in seiner Nähe Bomben explodieren und der Himmel flackert vom Feuer?!«
»Und da nutzten Sie die Situation und taten es …«
»Ja. Ich ging zu ihm, und da erst merkte ich, daß er tot war. Mich hieb es fast auf die Erde.«
»Nasarow hat sich nicht gewehrt? Ein starker Mann war er.«
»Gewehrt? Gegen wen?«
»Gegen Sie, Jossif Wladimirowitsch.«
»Wie kann sich ein Toter wehren?« Der Groschen fiel und fiel nicht. Immerhin spürte Niktin jetzt, daß hier etwas nicht in Ordnung war. »Was deuten Sie damit an, Krasnikow?«
»Was trieb Sie morgens um vier zu Nasarow?«
»Eine dienstliche Angelegenheit«, antwortete Niktin steif.
»So wichtig, daß man wie ein Irrer durch die Nacht rast? Mamjelew sagt, Sie kamen heran wie ein Geisterfahrer.«
»Ich hatte es eilig.« Niktin sah Krasnikow lauernd an. »Was geht das Sie übrigens an, Victor Ifanowitsch?«
»Gedanken macht man sich, das ist doch wohl erlaubt. Gedanken, die sich auch die Untersuchungskommission machen wird. Sie werden Auskünfte geben müssen, Niktin … das wollte ich nur andeuten.«
»Das kann ich.« Niktin versank wieder in tiefes Brüten. An Maja Petrowna dachte er immer wieder. Wer sagte ihm nun die Wahrheit? Der Schreiber des Zettels, aber wer war der Schreiber? »Woran ist Nasarow gestorben?« fragte er. Krasnikow war noch immer im Zimmer und stand vor ihm.
»Das wird noch untersucht. Erschossen wurde er nicht, erstochen wurde er nicht, auch ein Erwürgen kann man ausschalten, denn da müßte es Würgemale am Hals geben. Was bleibt somit noch? Man könnte daran denken, daß er vielleicht mit einem Kissen erstickt wurde.«
»Erstickt? Also ermordet?«
»In drei Minuten ist es möglich. Nasarow war sehr geschwächt durch seine – Krankheit. Auch diese Krankheit muß man noch analysieren. Eine merkwürdig plötzliche Krankheit mit außerordentlich interessanten Symptomen. Wir können leider nur raten …«
»Ein Teufelsloch, dieses Lebedewka!« stöhnte Niktin. »Ich sag es immer und keiner glaubt's: Ausräuchern muß man es.«
»Denken Sie jetzt lieber an sich, Jossif Wladimirowitsch.« Krasnikows Stimme war sehr ernst. »Über Ihre drei Minuten bei Nasarow werden Sie Rechenschaft ablegen müssen.«
Mit offenem Mund, nur langsam seine Situation begreifend, starrte Niktin dem weggehenden Krasnikow nach. Aber dann verstand er; mit einem Satz sprang er auf, raufte sich die Haare und schrie verzweifelt: »Genossen, was denkt ihr denn von mir?! Welcher Verdacht! Welche Ungeheuerlichkeit! Hängt ihr mir Nasarow jetzt an den Hals?! Wie kann man nur so etwas denken?! Krasnikow, erklären Sie mir das!«
Aber Krasnikow gab keine Antwort mehr, verließ das Zimmer und warf hinter sich die Tür zu, als solle sie nie mehr geöffnet werden.
Im Flur traf er auf Meteljew, der an der Wand lehnte und rauchte.
»Der Stachel sitzt«, sagte Krasnikow zufrieden. »Walja Borisowna hat nichts entdeckt?«
»Wie könnte sie das?«
Weitere Kostenlose Bücher