Sibirisches Roulette
Adler«, berichtete Filaret. »Der Sib-Aral-Kanal ist voll im Ziel der Gegner. Früher kamen allein die Befürworter des Kanals in allen Medien zu Wort. Die Gegner wurden niedergeschmettert, bis sie ganz verstummten. 1982, im Mai, sagte Breschnew in seinem Wirtschaftsprogramm, die Umleitung von Ob und Irtysch liege im Interesse des Volkes, und das gesamte Politbüro gab grünes Licht für den Beginn des Baus. Heute ist es umgekehrt: Die Gegner haben das Wort, und die großen Planer verhüllen ihr Haupt. Habt ihr da unten die neuen ›Richtlinien der ökonomischen und sozialen Entwicklung der UdSSR in den Jahren 1986-1990 und in der Periode bis zum Jahre 2000‹ gehört? Vor drei Tagen sind sie verkündet worden – und was denken Sie, Igor Michailowitsch: Das Sib-Aral-Projekt ist gar nicht mehr erwähnt worden! Wissen Sie, wer dahintersteckt? Aganbegjan, der Direktor des Instituts für Wirtschaft und Organisation der Industrieproduktion und Chefredakteur der Zeitschrift ›Eka‹, die schon 1979 freimütig verkündete, daß die Umleitung von Flußwasser aus Nordrußland und Sibirien nach dem Süden überhaupt keine ökonomische Bedeutung hat. Ich kenne Aganbegjan gut, wir spielen oft Schach miteinander. Zum wichtigsten Berater von Gorbatschow ist er berufen worden. Er baut mit am neuen Kurs in Moskau, sehr zum Mißfallen der alten Konservativen. Adler, jetzt müssen wir nachhelfen! Jagen Sie in die Luft, was nur möglich ist.«
»Wenn ich jetzt sprenge, gefährde ich indirekt sechshundert Menschen. Wichtig ist hier nur noch die Elektrozentrale.«
»Dann hinauf in den Schneehimmel mit ihr!«
»Sechshundert Menschen, Filaret! Denen schneide ich damit den Hauptnerv durch.«
»Denken Sie nicht daran, Igor Michailowitsch. Denken Sie an unser gemeinsames großes Ziel.«
»Ich werde daran denken, Vadim Viktorowitsch«, erwiderte Jugorow mit ruhiger Stimme. »Ich denke immer daran.«
Weihnachten wurde es. In der Kirche feierte Schagin mit dem Dorf. Walja und Jugorow fuhren mit einem von den Bauschreinern gebastelten Holzschlitten zum Gottesdienst, ein struppiges, dickfelliges Pferdchen in der Gabel, das klipp-klapp, klipp-klapp über den vereisten Schnee trabte. Auch Trofimow und Soja waren da, jetzt nicht mehr verachtet, nicht mehr von den alten, bösen Weibern befurzt – nein, aufgenommen in die Gemeinschaft des Dorfes, von Dankbarkeit umgeben. Das regte Trofimow am meisten auf. Ihm fehlte der Groll auf alle Menschen, sozusagen arbeitslos war er geworden. Wohin man kam, nur freundliche Gesichter, Händeschütteln, ein Gläschen zum Wohle – ekelhaft war's!
Bei Soja zeigte sich jetzt der gewölbte Leib. Im März, hatte man ausgerechnet, kam Masuks Kind zur Welt. Vielleicht sogar zur Osterzeit. Ihr gönnte man das, dem verschwundenen Masuk nicht. Es sprach auch keiner mehr davon, wie ein Mensch, wie er einfach verschwinden konnte; er war eben weg, hatte ein Kind hinterlassen. Soja und Svetlana, die betrogene Witwe, waren wie Schwestern zueinander; was wollte man mehr? In Lebedewka regelte sich alles zum Besten. Könnte die ganze Welt doch sein wie Lebedewka!
Im Januar feierte die Baubrigade das spezielle sowjetische Weihnachten: Väterchen Frost. Noskow stiefelte, als gütiges Väterchen verkleidet, mit Kapuze und weißem Wattebart, durch das Kasino und verteilte ›Butterplätzchen‹, die mangels genügender Butter hauptsächlich aus Wasser, Mehl und draufgestrichener Marmelade bestanden. Mit der Post, die von einem Hubschrauber gebracht wurde, kamen auch Pakete ins Lager von den Lieben daheim. Ein riesiges Fressen begann mit nachfolgendem Durchfall und Bauchkrämpfen – aber herrlich war's doch, Genossen. Auch in Sibirien kann man fröhlich sein.
Jugorow gab Krasnikows Brief an dessen Mutter dem Posthubschrauber mit. Das Letzte, was von ihm übriggeblieben war. Ein paar Worte des Abschieds, ohne Angabe des Ortes. Irgendwo in der weiten Welt zerrann der Name Victor Ifanowitsch Krasnikow … das gar nicht außergewöhnliche Schicksal eines geheimen GRU-Agenten.
Die Gegner des Kanalprojektes formierten sich jetzt öffentlich.
Auf dem 6. Schriftstellerkongreß der Russischen Föderation (RSFSR) protestierten die bekanntesten Autoren Rußlands gegen den Bau, darunter so berühmte Schriftsteller wie Sergej Salygin, Walentin Rasputin und Jurij Bondarjew. Starke Worte fanden sie: Rasputin rief alle auf, eine ›Patenschaft über die heilige Erde des russischen Nordens‹ zu übernehmen, Bondarjew klagte das
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