Sibirisches Roulette
Mann zu mir. Alles bereit machen zur Abfahrt. Wagen zwei räumen bis auf vier Mann Bewachung.« Der junge Leutnant, den Nasarow Ilja rief, rannte aus dem Saal. Bei der Erschießung von Kulinitsch hatte es ihn im Hals gewürgt; nur unter großer Mühe gelang es ihm, sich nicht zu erbrechen. Was sein Magen hinauf drückte, schluckte er wieder hinunter. Er war froh, hinauslaufen zu können und nicht mehr in der Nähe des Majors bleiben zu müssen.
Langsam, hintereinander, kamen die Bewohner von Lebedewka in die Stolowaja. Zuerst Korolew, der Dorfvorsteher, so wie es sich gehört; an seiner Seite Grazina Grigorinowna, seine Tochter – ein Nachkömmling, wie man so sagt, eine überraschende Altersfreude.
Ihnen folgten die anderen Bewohner des Dorfes, Bauern, Handwerker, Fischer, alle familienweise, zuerst der Vater, dann die Frau, die Kinder, die Großeltern … Maxim Feodorowitsch Jelankin, ein Tischler, der auch die Särge herstellte – ein mageres Geschäft, denn ungewöhnlich alt wurde man in Lebedewka –, schob sogar einen Urgroßvater in den Saal, ein vertrocknetes Männlein in einem von Jelankin selbst konstruierten Rollstuhl, aber ein Greis voll geistiger Frische, der beim Anblick von Nasarow laut fragte: »Sieht man an seiner Brust einen Orden, he? Ich habe neun Orden errungen! Was hat das Rotznäschen mir zu sagen?«
Jelankin war das peinlich, auch erfaßte er die Gefahr, die Urväterchen damit provozierte, aber der Alte war nicht zu bremsen, räsonierte herum und rief: »Sind wir eine Hammelherde, die gezählt werden soll?! Beim Leiter des Veteranenverbandes werde ich mich beschweren. Nach Moskau schreiben. An den Generalstab. Beim III. Kavallerieregiment bin ich gewesen, hab' die Fahne vorangetragen … Wo ist hier einer, der das auch von sich sagen kann?!«
Zufrieden überblickte Nasarow die Schlange der Menschen, die sich langsam zu seinem Tisch schob. Durch eine Gasse, die von Soldaten mit schußbereiten Kalaschnikows gebildet wurde. Eine Erinnerung tauchte in ihm auf … vor sieben Jahren, als Oberleutnant, in dem GULAG-Lager 145/1.19 in den Uranbergwerken östlich von Omsk. Die Lagerärztin Anikinskaja, keine Schönheit, zu dicke Beine, zu wenig Brust, aber als Ausgleich ein Gesicht, als habe sie vor dreihundert Jahren einem Ikonenmaler Modell für die Maria gesessen. Auch sie saß an einem Tisch, jeden Morgen um sieben Uhr, und er, Nasarow, hatte hinter ihr gestanden, auf ihr schwarzes Haar blickend, ihren Geruch einatmend und voll Begierde auf sie, und jeden Morgen zogen an ihr die krank gemeldeten Strafgefangenen vorbei, mit hohlen Augen und zitternden Lippen ihr Urteil entgegennehmend: »Arbeitsfähig! Der nächste! Name? Krankheit? Arbeitsfähig …« Welche Macht lag in diesem einen Wort! Arbeitsfähig. Kaum einer hatte gewagt, Protest dagegen zu erheben; und wer es tat, in wilder Verzweiflung, den griff sich Nasarow heraus, stellte ihn zur Seite, wartete, bis die Kolonnen in das Bergwerk eingerückt waren, und jagte ihn dann im Lager herum, bis er irgendwo zusammenbrach: auf dem Holzplatz, an den Schienen der Transportbahn oder in der Latrine, die er mit den Händen ausschaufeln mußte.
»Du bist ein Schwein, Leonid Antonowitsch«, hatte die Anikinskaja irgendwann einmal zu ihm gesagt, »aber du wirst deinen Weg machen. So etwas wie dich braucht man immer …«
Nun war er Major, hatte keine Anikinskaja mehr vor sich, und eine Menschenschlange zog an ihm vorbei. Statt »Arbeitsfähig« würde er sagen: »Rechts raus!« Ohne zu verraten, was dieses Zurseitetreten bedeutete.
Korolew, der erste, der vor seinen Tisch trat, sah Nasarow furchtlos in die zusammengekniffenen Augen. Der Major zwinkerte etwas mit den Lidern und nickte dann. »Abtreten!« sagte er barsch. Durch eine andere, von Soldaten gebildete Gasse konnte man wieder die Stolowaja verlassen. Aber Korolew blieb vor dem Tisch stehen.
»Abtreten heißt: raus!« sagte Nasarow herrisch.
»Eine Frage habe ich, Genosse Major.«
»Es ist keine Frage zugelassen. Abtreten!«
»Ich bin der Vorsteher von Lebedewka – Sie wissen es, Genosse Major – und möchte für mein Dorf sprechen.«
»Auch Sprechen ist nicht zugelassen. Abtreten!« Das letzte Wort brüllte Nasarow.
Zögernd schob sich Korolew in die andere Soldatengasse und blieb dort stehen. Sein Töchterchen Grazina kam jetzt vor Nasarows Tisch, und man sah, wie der Major überlegte. Nach einem Blick zu Korolew winkte er dann und sagte wieder: »Abtreten!«
So ging es weiter,
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