Sibirisches Roulette
flehend hochgereckt, tränen- und blutüberströmt das verzerrte Gesicht – ein Anblick war's, der einem einen Schauer über den Rücken jagte. Aber Nasarow blieb kalt, unberührt; ja, er verzog seinen Mund, als ekele er sich vor dem zu ihm kriechenden Kulinitsch.
»Zurück mit ihm!« sagte er hart und gab den Soldaten einen herrischen Wink. »Sechs Schritte weg, mit dem Rücken zu mir.«
Die Rotarmisten ergriffen Oleg Nikolajewitsch erneut, schleiften ihn zu der alten Stelle zurück und ließen ihn dort.
»Brüder!« brüllte er wieder. »Um Gottes Erbarmen … laßt mich leben … Ich habe doch nichts getan …«
»Nicht getauft ist er und ruft Gott an«, sagte Nasarow kalt. »Widerlich, kann man da nur sagen. Widerlich!« Er machte eine halbe Drehung, sah Beljakow an und zeigte mit ausgestrecktem Finger auf dessen Gewehr. »Beenden wir das Gejammer. Erschieß ihn!«
Beljakow erstarrte, seine Augen traten plötzlich hervor. »Nein!« sagte er leise. »Nein …« Dann blickte er zu Korolew und sah, daß auch er wie gelähmt neben dem Major stand.
»Das ist ein Befehl«, sagte Nasarow mit noch kälterer Stimme.
»Ich bin nicht einer Ihrer Soldaten, Genosse Major«, entgegnete Beljakow. »Noch nie habe ich auf einen Menschen gezielt.«
»Erbarmen!« schrie Kulinitsch und schlug die Hände vor das blutverschmierte Gesicht. »Erbarmen, laßt mich leben …«
»Schieß!« brüllte Nasarow und richtete seine Pistole auf Beljakows Brust.
»Das können Sie nicht verlangen, Genosse Major; nie und nimmer verlangen!« rief Korolew jetzt dazwischen. »Befehlen Sie das Ihren Soldaten, aber nicht Andrej Nikolajewitsch.«
»Wenn er nicht schießt, wird aus Lebedewka eine Fackel werden.«
»Das können Sie nie verantworten, Genosse Major …«
»Verantworten? Vor wem?« Nasarow schüttelte den Kopf, als habe ihn ein Insekt umschwirrt. »Ein Dorf voller Saboteure; Staatsfeinde, die Bomben legen und Dämme sprengen; verkappte Mörder alle … wer muß sich dafür verantworten, wenn er ein Wolfsrudel erlegt? Ein Hornissennest ausbrennt? Was ist Lebedewka? Ändert sich die Welt, wenn es Lebedewka nicht mehr gibt? Kümmert sich die Welt darum? Ein Nichts seid ihr, warum begreift ihr das nicht?!« Er sah wieder den bleichen, starren Beljakow an und zielte erneut auf sein Herz. »Schieß endlich!«
»Nein!« Beljakows Stimme war heiser und brüchig. »Nein! Nein!«
Nasarow hob die Schultern. Er hob die linke Hand und sagte zu den herumstehenden Soldaten: »Holt alle, die zu dieser Hundefamilie gehören, hierher und liquidiert sie. Hier, vor seinen Augen!«
»Halt!« Der alte Korolew sprang mit einem Satz vor. Das Blut klopfte heiß in seinem Kopf, sein Herz war wie abgedrückt. »Halt, sagte ich!« Die Soldaten, die schon ein paar Schritte zur Dorfstraße getan hatten, blieben stehen, obwohl das Kommando nicht von Nasarow gekommen war. An ihrem Zögern erkannte man, daß ihnen nicht ganz wohl war in der Uniform. Auch sie, alles junge Männer, erlebten zum erstenmal das Töten eines Menschen. Ihre Großväter hatten das innere Entsetzen verlernt; wenn sie vom Großen Vaterländischen Krieg erzählten, waren sie stolz darauf, wieviel Faschisten sie damals erschossen, und sie zeigten ihre Orden, die sie dafür bekommen hatten, überall herum. Wie alle alten Frontkämpfer bei allen anderen Völkern waren sie: überlebende kleine Helden, die einer großen Sache gedient hatten. Das Bewußtsein, beim millionenfachen Töten mitgeholfen zu haben, belastete sie nicht; das Vaterland oder sonst wer hatte befohlen, und Kriege gehörten von Urbeginn an zu dieser Menschheit und werden weiterhin dazugehören, so entsetzlich, wahnsinnig und unbegreiflich das auch ist. Liegt das Töten in der Natur des Menschen? Kein Tier tötet ein anderes Tier, außer wenn es seinen Hunger stillen muß. Nur der Mensch findet immer neue Gründe, um zu töten. Auch Lebedewka war ein Grund.
Nasarow verzog die Lippen zu einem schrecklichen Lächeln und sah Beljakow an. Der junge Mensch hatte sein Gewehr an die Brust gedrückt und starrte auf den knienden, weinenden, flehenden, wimmernden Kulinitsch.
Sie werden tatsächlich meine Familie holen, dachte er voller Entsetzen; werden sie hierher schleifen: den Vater, der ein verkürztes Bein hat, seitdem ihn ein Pferd getreten hatte. Die Mutter. Die vier Geschwister. Meine drei Schwestern und meinen Bruder, die jünger sind als ich. Den Großvater, der Unterleutnant im Krieg gewesen war, die Brust voller Orden.
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