Sibirisches Roulette
so aus, als solle man sie jetzt einfach an sich reißen und in die Arme nehmen. Jugorow widerstand dieser inneren Aufwallung und fragte dagegen:
»Ich weiß, es ist ungeheuerlich, Soja – aber kannst du mir heute dein Motorrad leihen?«
»Nimm es dir!« Sie rückte das Kopftuch weiter nach hinten, sah ihn mit einem ganz merkwürdigen Blick an und fügte dann hinzu: »Dir geb ich es gern … Adler …«
Er erwiderte stumm ihren Blick, warum sollte man noch Worte verschwenden, und ging an ihr vorbei ins Haus. Sie trat nicht aus dem Weg, ihre Körper schabten aneinander, und die Berührung durchfuhr sie wieder wie ein Blitz.
Ein Mann, der sich Jugorow nannte, hatte einen neuen Platz gefunden.
Jeder in Moskau kennt den großen, grauen Steinbau der ehemaligen Allrussischen Versicherungsgesellschaft am Dscherschinski-Platz. Und weil ihn jeder kennt, ist es jedes Russen Wunsch, ihn nie betreten zu müssen. Als nach dem Großen Vaterländischen Krieg politische Häftlinge und deutsche Kriegsgefangene noch einen achtstöckigen Trakt anbauten, lief ein Flüstern durch Moskau mit einem bitteren Witz: »Frage an Radio Eriwan: Kann man den Beginn einer neuen Zeit erkennen? – Antwort: Im Prinzip ja. Das KGB erweitert seine Bauten.«
Dabei ist der erste Eindruck, wenn man das weitläufige Haus betritt, durchaus kein Anlaß, depressiv zu werden. Die langen Korridore und die Wände sind einheitlich in einem freundlichen Hellgrün gestrichen. Man geht über Parkettböden, die immer peinlich sauber wirken. Und betritt man eines der Zimmer, die nicht allzu groß sind, weil man wegen Platzmangel aus einem großen Zimmer zwei kleinere gemacht hat, dann ist es so wie in allen bürgerlichen Büros mit Schreibtisch, Aktenschränken, Regalen, Stühlen und einer Deckenlampe, die aus einer Milchglaskugel mit einem Lampenschirm besteht. An den Wänden hängen die Fotos Lenins und des jeweiligen Generalsekretärs der Partei – der letztere in einem Wechselrahmen. Lenin ist unsterblich, seine Nachfolger aber kommen und gehen.
Nachdenklich stimmt allein der Blick auf die Fenster, jedenfalls soweit sie, im alten Teil des Gebäudes, auf den Innenhof gehen. Es ist kein herzerwärmender Anblick, denn der Trakt an der einen Hofseite bildet das Lubjanka-Gefängnis – ein Wort, bei dessen Nennung jeden ein unwohles Gefühl beschleicht. Denn man weiß: nur wenige, die das Lubjanka-Gefängnis von innen gesehen haben, waren später in der Lage, darüber zu berichten. Die meisten wurden dort hingerichtet, starben in den schalldichten Verhörkellern oder töteten sich selbst, um den unerträglichen Qualen zu entfliehen. Oder sie verfaulten als Verbannte später irgendwo in der Weite Sibiriens in Bergwerken, Kohlengruben, Steinbrüchen oder in Sümpfen oder Sägewerken der unendlichen Wälder. Selbst drei Chefs des Staatssicherheitsdienstes, einst die obersten Herren in diesem Haus, wurden in der Lubjanka hingerichtet und lernten am eigenen Leibe die Methoden kennen, die sie vorher selbst eingeführt hatten.
Aber nicht nur deshalb sind fast alle Fenster zum Innenhof vergittert oder mit einem starken Drahtgeflecht geschützt. Die panische Angst der Russen vor Spionage ist es, die hier eine wesentliche Rolle spielt. Bei offenem Fenster könnte ein Luftzug geheime Papiere aus dem Fenster wehen. Sonst aber, wie gesagt, ist es so wie in allen Büros und bei allen Behörden. Angestellte, Beamte, Besucher laufen hin und her, überall klingeln Telefone, auf den Gängen steht man herum und unterhält sich, und kaum einer hat das Gefühl, daß er hier mitten in der Zentrale des größten Geheimdienstes der Welt steht, einer Überwachungs- und Spionageorganisation gigantischen Ausmaßes, der über neunzigtausend KGB-Offiziere in aller Welt angehören, nicht gerechnet die über vierhunderttausend Angestellten, Bürokräfte, Wachposten, Grenzwachen und Mitglieder geheimer Sondereinheiten. Hinzu kommen noch Hunderttausende von Spitzeln und V-Männern, Spione in allen Ländern der Erde. Militärberater, Wirtschaftshelfer, Ausbilder und anonyme Helfer. Sie alle, angefangen vom Fahrer eines Fernlastwagens bis zum Offizier eines Handelsschiffes, vom Botschaftsangestellten bis zum angeblichen Flüchtling aus dem Osten – sie alle, ein unüberblickbares Heer von Agenten und deren Helfern, werden befehligt, geleitet, geschützt und versorgt von diesem Gebäudekomplex am Dscherschinski-Platz aus.
Anders allerdings als bei normalen Behörden strömen die Mitarbeiter
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