Sibirisches Roulette
Kirche wert«, sagte Korolew ernst und fast feierlich. »Lew Andrejewitsch … hier wird noch Großes geschehen!«
Am Fenster ihres Zimmers hatte Walja Borisowna gestanden, als Soja, mit Jugorow auf dem Gepäckträger, durch Nowo Gorodjina fuhr. Zunächst war sie im Wohnraum gewesen. Dort saß Major Nasarow, enttäuscht und wütend, und machte Schemjakin lautstarke Vorwürfe, weil er durch seinen Anruf in Moskau das harte Verhör der Geiseln verhindert habe. Vom Stab der GRU war über General Pychtin angeordnet worden, daß Major Nasarow ab sofort auf alle Bestrafungen der festgenommenen Einwohner von Lebedewka zu verzichten habe. Sogar überprüfen wolle man die ganze Angelegenheit, hatte es aus Moskau geheißen. Pychtin war daraufhin weich geworden. Bisher hatte sich kaum jemand um das Gebiet zwischen Tobolsk und Tjumen gekümmert, jetzt ruhte jedoch das Auge der GRU darauf – ein triftiger Grund, den Kopf zwischen die Schultern zu ziehen.
»Überall Dummheit und Sabotage!« hatte Nasarow geklagt. »Bereuen werden Sie das alles noch, Genosse Schemjakin.«
Da war Walja Borisowna hinausgegangen, hatte sich in ihr Zimmer eingeschlossen, war vor den Spiegel getreten und hatte sich betrachtet. Ihr war es, als brenne der Mund Jugorows noch immer auf ihren Lippen. Auch seine Zungenspitze spürte sie noch deutlich, und als sie die Zunge vorsichtig durch die Zähne nach vorn schob und im Spiegel musterte, da schien es, als habe sie eine kräftigere Farbe, als glühe sie noch von seinem Kuß. An Jugorows starke Arme dachte Walja, die sie so fest umfaßten, daß Gegenwehr nicht mehr möglich war, und es durchrann sie erneut jenes bisher unbekannte süße Gefühl, das sie gezwungen hatte, den Mund zu öffnen und diesen Mann wiederzuküssen.
Nach der Flucht aus seinem Zimmer war sie noch ein paar Meter weitergelaufen, hatte dann plötzlich eine seltsame Kraftlosigkeit in ihren Beinen verspürt, war an irgendeiner Hauswand stehengeblieben, hatte die Sanitätstasche an sich gedrückt und tief Luft geholt. Eine selige Stimmung war über sie gekommen, minutenlang hatte sie so in der Abendsonne gestanden mit geschlossenen Augen, die kurze Spanne Zeit des Kusses noch einmal nacherlebend – und erst, als ein schwerer Lastwagen brummend an ihr vorbeifuhr, hatte sie die Erinnerung weggewischt und laut zu sich gesagt: Ein Schuft ist er. Ein Schuft! Unterschreibt einen Aufruf für einen Puff.
Auch jetzt, vor dem Spiegel, in ihrer einsamen Verwirrung, zwang sie sich, an diese Unterschrift zu denken. Ans Fenster setzte sie sich, blickte hinaus in die Nacht, sah die von Bogenlampen erleuchtete Straße, die sich in der Ferne in tiefer Dunkelheit verlor. Noch härter werde ich zu ihm sein, dachte sie. Einen Panzer werde ich tragen. Soll ich ihn untauglich schreiben und seine Anstellung verhindern? Mit welcher Diagnose schalte ich ihn aus? Wenn er darauf besteht, von anderen Ärzten untersucht zu werden – in Tobolsk, wo er sofort hinfahren wird –, macht er mich lächerlich. In Nowo Gorodjina wird es heißen: Die Ärztin Schemjakin stellt falsche Diagnosen. Wer soll mir da noch glauben? Nein … so wird man Jugorow nicht los!
Aber willst du ihn denn loswerden, Walja Borisowna?
Sie hob den Kopf, als in der Ferne ein Lichtschein aufflammte und immer näher kam, zugleich mit dem Knattern eines Motorrades.
Walja erhob sich, drückte das Gesicht an die Scheibe, und da sie im Dunkeln stand, war sie von der Straße aus nicht zu sehen. Jugorow … er war weggefahren? Jetzt erst kam er zurück? Wo fährt hier ein Mensch in der Nacht hin?
Das Licht kam näher, das Motorrad fuhr in den Bereich der Bogenlampen, ganz deutlich war es jetzt zu sehen: Jugorow saß auf dem Gepäckträger des Motorrades, hatte die Arme um den Fahrer geschlungen, und dieser Fahrer – war ein Mädchen! Ein schönes kräftiges Mädchen mit hellen blonden Haaren, die sich im Fahrtwind blähten.
Erst als die beiden am Haus der Schemjakins vorbeigefahren waren, löste sich Walja vom Fenster und ging in das Zimmer zurück. So ist das also, dachte sie und holte mehrmals tief Atem. Eine Klammer lag um ihr Herz, behinderte das Schlagen und drückte die Luft ab. Wie zum Ersticken war's, unerträglich, quälend, Schwäche über den ganzen Körper verbreitend. Sie setzte sich auf das Bett, starrte gegen die Wand und sagte leise, mit völlig fremder Stimme: »Ich hasse ihn! Walja, du haßt ihn … Dein Leben lang haßt du ihn!«
Minuten später ratterte das Motorrad schon
Weitere Kostenlose Bücher