Sibirisches Roulette
solche Macht haben Sie, Walja Borisowna?«
»Sie sehen es.«
»Nicht anders als im GULAG …«
Einen ganz kurzen Augenblick war es völlig still zwischen ihnen; eine stumme, fast unerträgliche Spannung hatte sich aufgebaut. Sie fiel erst dann zusammen, als Walja fragte, und ihre Stimme klang wie angekratzt: »Was wissen Sie vom GULAG?«
»Ein Jahr lang war ich im Lager V/32 bei Omsk. Nur ein Jahr. Ich konnte flüchten, versteckte mich in Omsk bei Freunden, bekam die Papiere eines Igor Michailowitsch Jugorow – und verschwand in der Weite.«
»Das … das erzählen Sie alles mir? Ausgerechnet mir …?«
»Sie hören es, Walja.«
»Wer sind Sie wirklich? Wie heißen Sie? Woher kommen Sie?«
»Was ist ein Name denn wert?! Wichtig nur für die Registratur. Genau dahin, in eine amtliche Akte, will ich nicht. Ich bin Jugorow; genügt das nicht?«
»Mir nicht.« Sie zeigte auf die frische Narbe. »Woher ist sie?«
»Eine schrecklich dünne Haut habe ich, Genossin Ärztin. Wenn ich mich mal kratze, gibt's gleich solche Wunden.«
»Ein widerlicher Mensch sind Sie«, stieß Walja hervor. »Ausliefern werde ich Sie dem örtlichen KGB!«
»Nie werden Sie das tun, Walja Borisowna. Nie.« Er sah sie mit einem ganz merkwürdigen Blick an, warf dann plötzlich die Arme vor, zog sie an sich, mit einem unwiderstehlichen Ruck, umfaßte sie fest und unnachgiebig mit den Armen und küßte sie auf den Mund.
Nur eine Sekunde dauerte die Überrumpelung, dann begann Walja sich zu winden und trat um sich, hämmerte mit den Fäusten gegen seine Schultern und zielte mit dem Knie nach seinem Unterleib. Aber all das half nichts. Wie in einem Schraubstock stak sie. Seine Lippen preßten sich weiter auf ihren Mund … und dann ließ ihr Widerstand nach, sie öffnete die Lippen, und beider Zungenspitzen berührten sich.
Als er sie wieder losließ, sprang sie zwei Schritte zurück, ballte die Fäuste und schüttelte sie drohend zu ihm hin. »Du Lump«, schrie sie. »Du Verbrecher! Du namenloser Teufel … abtransportiert wirst du … sofort … sofort!«
Sie warf sich herum und riß die Tür auf, aber Jugorows ruhige Stimme hielt sie zurück:
»Ihre Tasche, Genossin Ärztin. Vergessen Sie Ihre Sanitätstasche nicht!« Sie machte kehrt, riß die Tasche vom Boden und rannte dann aus dem Zimmer.
Langsam zog Jugorow sein Hemd wieder an, schloß die Tür ab, holte aus seinem Rucksack ein kurzes, aber starkes Stemmeisen und begann, eine der Dielen zu lösen und aus dem Boden herauszuheben. In dem Hohlraum darunter versteckte er das flache Gehäuse seines Funkgerätes und fügte das Brett dann wieder ein. Ein nicht gerade ideales, nur sehr notdürftiges Versteck war das, aber es gab in diesem Raum keine andere Möglichkeit.
Nach dieser Arbeit, bei der er sehr ins Schwitzen geraten war, denn die Luft war heiß in dem Zimmer – und lüften durfte er nicht, weil vor dem Fenster ein reger Betrieb herrschte –, wusch er sich wieder mit kaltem Wasser, setzte sich dann auf sein Bett und wartete. Er war gespannt, ob ihn ein Milizionär abholen würde.
Bis zum Abend kam niemand. Schließlich zog Jugorow seine noch saubere Arbeitskleidung an und machte sich auf den Weg, Nowo Gorodjina kennenzulernen. Verwundert stellte er fest, daß Arbeiterkollegen, die er nie gesehen hatte und die ihn also nicht kannten, höflich grüßten, ihm sogar ein paar freundliche Worte zuriefen. Einer trat sogar auf ihn zu, klopfte ihm auf die Schulter und sagte: »Gut so, Brüderchen. Je größer die Gemeinschaft, um so wirkungsvoller.« Jugorow sah ihm verblüfft nach und wußte nicht, womit er soviel Sympathie verdient hatte.
Er erfuhr es sehr deutlich, als ihm Walja Borisowna wieder begegnete. Aus dem Haus Nummer 9 kam sie, wo sie einen Arbeiter behandelt hatte, der im Nacken einen dicken Furunkel trug. »Nur vom Saufen kommt das!« hatte sie dem schmerzgepeinigten Mann ins Gesicht geschleudert. »Billiger, ungereinigter Wodka ist das! Woher bekommt ihr dieses Teufelszeug? Wer schmuggelt das hier ein?! Morgen früh um acht operiere ich dich. Ab sofort bleibst du nüchtern. Nicht eine einzige Brotkrume wird gegessen!«
Daß ausgerechnet Jugorow an dem Haus vorbeiging, als sie es verließ, kann man mit gutem Gewissen Schicksal nennen. Atemlos vor Zorn aber wurde sie, als Jugorow sagte:
»Was ist los, Waljuschka? Frei laufe ich herum … müßte längst hinter Gittern sein.«
»Der Teufel hole dich!«
»Eben das tut er nicht. Vielleicht ist er zu satt? Alle sind
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