Sibirisches Roulette
die Herren. Also nichts für Sie, Genosse Major.«
»Für Sie um so mehr.« Nasarow lachte unterdrückt. »Das haben Sie nun davon, daß Sie in Moskau die braven Schläfer aufgeschreckt haben. Moskau hat uns im Visier … so hat alles zwei Seiten, Boris Igorowitsch. Ach ja, was ich die ganze Zeit über noch sagen wollte: Die Genossin Ärztin hat freien Zutritt zum Lager und zu den Geiseln. Nur sie allein! In Moskau will man ja wissen, ob wir sie rund und dick füttern und jedes gekrümmte Härchen wieder glatt gekämmt ist. Schrecklich, wenn die oberen Stellen die Realität nicht verstehen!«
Die Schemjakina räumte Geschirr und Kuchen weg, als Nasarow gegangen war. Schemjakin machte am Schreibtisch noch einige Notizen.
»Wer wird klug aus Leonid Antonowitsch?« fragte sie kopfschüttelnd. »Erst heißt es, er verhaftet uns alle, dann ißt er uns den halben Kuchen weg und weint fast, als er von seiner Mutter spricht … Wer kann das verstehen?«
»Man muß das anders sehen, Olga Walerinowna.« Schemjakin schloß seine Notizen in die Schublade ein. »Ein Karrieremensch ist er. Ein typischer Karrieremensch. Um hochzusteigen auf der militärischen Leiter, würde er auch sein Mütterchen opfern. Mit Tränen in den Augen, aber opfern würde er sie. So einer ist er. Sage mir keiner mehr, es gäbe keine Teufel auf der Erde.«
Wie hatte sich doch alles gewandelt!
Leutnant Mamjelew holte Walja ohne Zögern am ersten Sperrzaun ab, als die Posten meldeten, sie stünde da und wolle ins Lager. Den ungeheuren Krach, den Nasarow mit ihm angestellt hatte, die Drohung, ihn vor das Militärgericht zu bringen, ihn zu degradieren und zum Latrinenputzen abzukommandieren, hatte er in strammer Haltung und stumm über sich ergehen lassen. Was sollte man sagen? Schuldig fühlte er sich, übertölpelt hatte man ihn; zu gutgläubig, ja geradezu blöd war er gewesen. So etwas mußte bestraft werden, das sah er ein, auch wenn es vielleicht das Ende seiner hoffnungsvollen Offizierslaufbahn bedeutete.
Um so ratloser war er gewesen, als Nasarow ihm später sagte, die Geiseln sollten unberührt bleiben, bekämen bessere Verpflegung und seien vorerst nicht hart zu verhören. Eine Stunde vorher hatte er noch Beljakow den Verband vom Kopf gerissen, ihn mehrmals geohrfeigt und ihm zugeschrien: »Ein Soldatenmörder wird gepflegt, und vom Opfer spricht niemand! Wir hängen dich nicht, du Schurke, sondern erwürgen dich!« Aber plötzlich war das alles anders … Genossen, wer kennt sich da aus?! Was war in Nasarow gefahren?
»Wie geht's den Geiseln?« fragte Walja, als Mamjelew sie begrüßte.
»Gut, Genossin Ärztin.«
»Viel haben Sie von Ihrem Major gelernt, Mamjelew. Vor allem die Menschenverachtung.«
»Es ist nicht mehr zu sagen als die Wahrheit: Die Festgenommenen sind in guter Verfassung.«
Und so war's tatsächlich. Walja Borisowna hätte sich die Augen gewischt, wenn es nicht zu dumm ausgesehen hätte. Die stinkenden Fäkalieneimer hatte man weggenommen, der Boden war gesäubert, die Geiseln lagen auf einfachen Klappliegen und nicht mehr auf der nackten Erde. Den Frauen war je eine dünne Decke zugeteilt worden, jeder hatte ein Soldatenkochgeschirr bekommen und ein blechernes Besteck, um das Essen zu empfangen, und – man kann das Wunder nicht begreifen – die Frauen wurden täglich zweimal weggeführt, um sich zu waschen, während die Männer sich gleichzeitig gemeinsam an einem breiten Trog säubern durften. Selbst an Beljakow erwies sich der rätselhafte Umschwung: Keiner versetzte ihm mehr einen Tritt in den Hintern, wenn er aufgerufen wurde, und niemand hieb die Faust unter seinen Eßteller, daß er weit in die Luft flog (einen neuen hatte es dann nicht mehr gegeben). Er bekam jetzt sein Essen genauso wie die anderen.
Alle standen sie auf, als Walja ins Zelt kam und sich erstaunt umsah. Mamjelew hinter ihr gluckste vor Stolz. Zwar traute er dem plötzlich befohlenen Frieden nicht, aber ein Soldat soll nicht denken, sondern Befehle ausführen. Soldaten mit eigenen Gedanken waren von jeher eine Gefahr für die Truppe.
Mit einem Blick hatte Walja erfaßt, daß Beljakows Kopfverband fehlte. Auch sein anderes Auge war nun geschwollen. Wo Nasarow hinschlug, veränderte sich die Natur.
»Komm her, Andrej Nikolajewitsch«, sagte Walja und winkte Beljakow zu. »Wer hat den Verband entfernt?«
»Major Nasarow hat ihn abgerissen.« Beljakow strahlte sie an. Er mußte Schmerzen haben, denn auch die Tabletten hatte man ihm abgenommen,
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