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Sich lieben

Sich lieben

Titel: Sich lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Philippe Toussaint
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zu mir bemerkte, daß, würde ich nicht nur besetzte Taxis heranrufen, wir schon längst im Hotel wären, hatte ich mich zu ihr umgedreht und gesagt, sie möge die Schnauze halten. Sie hatte nichts darauf geantwortet. Regungslos, die Hände über die Arme verschränkt, ein verschreckter Raubvogel, hatte sie mir mit intensiven Augen einen vernichtenden Blick zugeworfen. Ich war zu ihr zurückgegangen, in meinen Schaumgummisandalen patschend, in die von allen Seiten Wasser eindrang, die Socken waren so dick, daß ich die Füße nicht ganz in die Sandalen bekam, so daß die Fersen überstanden und bei jedem Schritt tiefer in den Schnee sackten, verdammte Scheiße. Wir waren so minutenlang wortlos gelaufen, und beim ersten Wort von Marie – ein erneuter Vorwurf oder ein neuerliches Beklagen, ich weiß nicht, egal auch, der bloße Ton ihrer Stimme war mir unerträglich geworden – hatte ich meine Schritte beschleunigt und sie da auf der Straße stehenlassen. Laß mir wenigstens den Schirm, hatte sie mir nachgeschrieen, während ich in der Menge untertauchte. Ich war zu ihr zurückgegangen und hatte ihr den Schirm hingehalten, etwas zu heftig, vielleicht, oder sie hatte ihn nicht richtig gegriffen, ich weiß nicht, jedenfalls war er zu Boden gefallen, zwischen uns beide, kopfüber auf die Schirmstreben gestützt, in den Schnee.
    Heb ihn auf, sagte sie. Ich sagte nichts. Heb ihn auf, wiederholte sie. Ich blickte ihr in die Augen, stach ihr mit meinem bösesten Blick in die Augen. Ich rührte mich nicht. Wir waren auf dem Bürgersteig stehengeblieben, jeder auf einer Seite des im Schnee kopfüber liegenden Regenschirms, Leute liefen an uns vorbei und fragten sich, was da wohl sei, schauten uns einen Augenblick an und gingen dann weiter, drehten sich zuweilen nochmals um, um uns einen letzten Blick zuzuwerfen. Ich rührte mich nicht. Ich spürte, wie es auf meinen Wangen prikkelte, ich hatte Lust, sie zu schlagen. Bewegungslos standen wir da, wenige Meter vom Eingang eines Cafés entfernt, von dessen Baumwollvorhang langsam geschmolzener Schnee tropfte. An den Tischen des kleines Lokals saßen Leute und blickten durchs Fenster zu uns, ich spürte ihre Blicke, ich spürte ihre Blicke auf uns gerichtet. Weder Marie noch ich rührten uns. Es war auf jeden Fall undenkbar, daß einer von uns beiden jetzt diesen Regenschirm aufheben würde. Ich bekam wieder einen klaren Kopf, drehte mich um und ging wortlos weiter. Marie folgte mir, und wir setzten unseren Weg fort auf der Avenue, ließen diesen kopfüber liegenden offenen Regenschirm verlassen im Schnee auf dem Bürgersteig hinter uns zurück.
    Wir bewegten uns weiter in der Menge, gleichen Schritts, dem Anschein nach gemeinsam, die zusammenpassenden weißen Wollsocken in unseren Sandalen mit ihren lächerlichen identischen rotblauen Randstreifen in Höhe der Knöchel, aber jeder versunken in seine bitterbösen Gedanken und damit beschäftigt, den Vorfall zu verdauen. Wir sagten nichts – sprachen nicht mehr miteinander. Von Zeit zu Zeit schaute ich sie flüchtig an. Egal, wer Schuld hatte, vermutlich keiner. Wir liebten uns noch, aber ertrugen uns nicht mehr. In unserer Liebe war genau dies eingetreten: Taten wir uns insgesamt gesehen immer noch mehr Gutes als Böses an, so war doch das wenige Böse, das wir uns antaten, jetzt unerträglich geworden.
    Auf einer Brücke hatten wir angehalten, und ich betrachtete vor mir den anbrechenden Tag. Der Tag brach an, und ich dachte bei mir, daß es mit unserer Liebe zu Ende war, es war, als löste sich unsere Liebe vor meinen Augen auf, als würde sie mit der Nacht verschwinden, im gleichsam bewegungslosen Rhythmus der Zeit, die vergeht, wenn man sie mißt. Am verblüffendsten war, als ich so die unmerklichen Variationen von Farbe und Licht an den bläulichen Glastürmen von Shinjuku beobachtete, daß das Tagwerden mir eher eine Frage der Farbe als des Lichts zu sein schien. Die Dunkelheit hatte kaum ihre Intensität verloren, war lediglich im Begriff, aus dem Tiefblau der Nacht ins trübe Grau eines verschneiten Morgens überzugehen, und alle Lichter, die ich noch in der Ferne sah, beleuchtete Wolkenkratzer in der Umgebung des Bahnhofs, Lichtstreifen der Autoscheinwerfer auf den Hauptverkehrsstraßen und den Betonabrundungen der städtischen Autobahnen, Kugeln der Lichtmasten und bunte Neonbeleuchtungen der Läden und Geschäfte, Striche weißen Lichts in den Fenstern der Gebäude, sie alle leuchteten weiter in der Stadt wie inmitten

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