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Sich lieben

Sich lieben

Titel: Sich lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Philippe Toussaint
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Fensterläden eines Verkaufsstandes abnahm. In der Mitte der Straße fuhr langsam im Schneetreiben ein Wagen der Straßenreinigung, sein orangefarbenes Signallicht warf einen länglichen Schein oben an die Hausfassaden. Wir hatten uns im Supermarkt einen durchsichtigen Regenschirm und weiße wollene Tennissocken gekauft (im Dreierpack, mit identischen Doppelstreifen in rot und blau, und beide hatten wir uns zum Schutz vor der Kälte sofort ein Paar angezogen) und schritten nun, die Füße wieder im Warmen, auf gut Glück in den kleinen Straßen voran, aneinandergedrückt unter dem zierlichen durchsichtigen Regenschirm.
    Schließlich stießen wir auf eine bereits sehr lebendige Hauptverkehrsstraße, auf der in einem durch das Schneegestöber ins Märchenhafte spielenden nächtlichen Licht die Autos im Nebel in einem Ballet aus Scheinwerfern und Rücklichtern auf der Stelle schlitterten. Vereinzelte Taxis mit bonbonfarbenen Karosserien, in Tiefgrün und Orangemetallic, bewegten sich in Zeitlupe in einer Suppe aus Dreck und Matsch, die unter den Reifenspritzern plätscherte, vorwärts. Bei jeder Bremsung flammten die Rücklichter der Autos auf und warfen einen dramatischen roten Lichtschein in die Dämmerung. Überall auf den noch von Dunkelheit überzogenen grauen Fassaden funkelte und glänzte übereinander und ineinander Neonreklame, ein Gewirr von Schildern, auf denen Inschriften in Katakanas liefen, unentzifferbare Kolonnen von Ideogrammen, in die sich zuweilen einige vertraute Buchstaben mischten, so die eines riesigen Reklameschilds, das seitlich an einer metallenen Fußgängerbrücke über der Avenue angebracht war und das Auge durch die packende Aufforderung anzog: VIVRE. Zahlreiche Läden und Cafés entlang der Avenue hatten bereits geöffnet, auf dem Bürgersteig strömte eine eilige Menge, die sich wie ein reißender Sturzbach dahinwälzte, der in seinem Lauf in einem Wogen von dunklen und durchsichtigen Anoraks, Parkas, Überziehern und Regenschirmen einen ununterbrochenen Strom an Fußgängern mit sich davontrug. Wir hatten uns der Bewegung der Menge angeschmiegt und folgten der Strömung unter unserem schmalen durchsichtigen Regenschirm, das Extravagante unserer Aufmachung lediglich von einigen Blicken wahrgenommen, die sich verstohlen auf uns richteten, ich in bloßem T-Shirt im Schneegestöber und Marie in ihrem Kleid aus eigener Kollektion, die Schultern nackt, ihre Pantoffeln aus blaßrosa Leder seit kurzem verziert mit einem Paar dicker Tennissocken.
    Da ereignete sich ein kleiner Vorfall, der folgenlos hätte bleiben können, aufgrund unseres Zustands äußerster Müdigkeit jedoch zum Auslöser einer ebenso kurzen wie heftigen Krise wurde. Ich hatte mich an den Straßenrand gestellt, um im Verkehrsgetümmel ein Taxi heranzurufen (auch wenn wir vermutlich nur wenige Minuten zu Fuß vom Hotel entfernt waren, zog ich es doch vor, dem Ganzen so schnell wie möglich ein Ende zu bereiten), und, meiner Aufforderung Folge leistend, war ein Taxi auch sofort aus der Autoschlange in der Mitte ausgeschert und hatte vor uns am Bürgersteig gehalten, wobei in derselben Bewegung auch schon die Hintertür automatisch aufgegangen war. Während ich den geöffneten Regenschirm außerhalb des Wagens hielt, hatte ich meinen Kopf ins Innere des Gefährts gesteckt – zweifellos ein Fehler, ich hätte mich besser gleich ganz ins Taxi gesetzt –, um dem Fahrer den Namen des Hotels anzugeben, ihn zwei- oder dreimal wiederholend, wobei ich die Adresse präzisierte, so wie sie auf der Visitenkarte, die ich bei mir hatte, verzeichnet war, 2-7-2, Nishi-Shinjuku, Shinjukuku. Der Fahrer, sanftmütig hinter seiner durchsichtigen Trennscheibe sitzend, hatte mich mit einem flüchtigen Blick gemustert – Aussprache, Mienenspiel, Kleidung –, und mich dann, mit einem ohnmächtigen Lächeln, ohne lange zu fackeln, abgewiesen, die Tür hatte sich von allein vor meiner Nase wieder geschlossen, der Wagen war im selben Moment auch schon wieder in den Nebel gestartet, um mich hilflos am Bürgersteig stehenzulassen, über mein Mißgeschick nachsinnend.
    Wütend und ohnmächtig hatte ich daraufhin ein weiteres Taxi heranrufen wollen, irgendwie, ohne große Überzeugungskraft, indem ich kaum merklich den Arm hob, unmöglich, daß ein Fahrer mich bemerkte, und als Marie hinter mir auf dem Bürgersteig, die Hände über die Arme verschränkt, steif vor Kälte, müde des Wartens und ob meiner Wirkungslosigkeit sehr gereizt, mit bissiger Stimme

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