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Sich lieben

Sich lieben

Titel: Sich lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Philippe Toussaint
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einer jetzt zum Tag gewordenen Nacht.
    Schweigend stand Marie neben mir, wir verharrten reglos, wie versteinert, auf dieser Fußgängern vorbehaltenen metallenen Überführung, die wie eine Steilwand die zum Bahnhof von Shinjuku führenden Eisenbahngleise überragte. Unter uns verlief längs der gesamten Gleisbettung ein Wust von Elektroleitungen und Hochspannungskabeln, Oberleitungen, die Gleise überspannenden Metallvorrichtungen. In regelmäßigen Abständen, nach einem dumpfen Dröhnen, das die Brücke vibrieren ließ, tauchte eine erleuchtete U-Bahn voller Fahrgäste auf, zuweilen ein Güterzug, und dann wieder eine weiße Einschienenbahn, die wie ein Strich im fahlen Licht des anbrechenden Tags dahinraste. Am Bahnhof von Shinjuku, den wir in der Ferne wahrnahmen, drängelten sich Tausende von Menschen im Schnee um den Haupteingang des Gebäudes in einer riesigen Woge von Regenschirmen, die durch entgegengesetzte langsame Strömungen bewegt zu werden schien, der eine Teil wälzte sich in den Bahnhof, der andere aus ihm heraus, während sich zugleich vielfache Unterströmungen zu bilden schienen, vereinzelte Personen, die sich einen Weg gegen den Hauptstrom bahnten, um an die Schalter oder aus den U-Bahn-Schächten zu kommen. Weiter weg erhob sich eine Insel aus hohen Metallkonstruktionen, Hotels und große Warenhäuser, deren terrassenförmige Dächer überladen waren mit Neonlampen und Antennen, die oberen Fassaden gespickt mit Riesenbildschirmen, die in verblichenen Farben stumme Reklamesprüche in die vergehende Nacht ausstrahlten. Wir hatten uns wieder auf den Weg gemacht, immer noch wortlos, und waren noch nicht über der Brücke, als in dem Moment, da ich mich Marie zuwandte, die stumm an meiner Seite im Eisniesel aus geschmolzenem Schnee, der immer weiter auf die Stadt fiel, dahinstapfte, und im Begriff, ihr gegenüber eine Geste zu zeigen, ihren Arm zu berühren oder ihre Hand zu nehmen, mich das Gefühl überkam, als wackle mein Kopf, und in der Verlängerung dieses Taumels ließ das Dröhnen eines unsichtbaren Zugs alles auf seiner Bahn erzittern, rüttelte lauthals an den Metallgittern der Brückenbrüstung, die neben mir von oben nach unten zu scheppern begannen in bläulichen Funkengarben und Feuersblitzen, die ich plötzlich aus einem Generatorenkasten unter mir hervorstieben sah, der an Ort und Stelle implodierte, in einem dichten schwarzen Rauch, der sich über den Gleisen erhob, wo ein mit Vollgas dahinrasender Zug überstürzt bremste und anzuhalten versuchte, während ich bei einem raschen Rundblick, den ich hinter mich auf die Brücke inmitten des Lichts der schaukelnden Beleuchtung warf, die Passanten sah, die wie auf Deck eines von einer kurzen, heftigen Riesenwelle emporgehobenen Dampfers hin- und hergeworfen wurden, wobei einige das Gleichgewicht verloren, dagegen ankämpften und, um nicht ihre Laufrichtung zu verlieren, immer schneller wurden, als wollten sie ihrem davonfliegenden Regenschirm hinterherstürzen, während andere in die Knie gegangen waren, die meisten in ihrem Lauf innehielten, wie versteinert stehenblieben, gelähmt, den Kopf mit einem Arm, ihrer Aktentasche, ihrem Büroköfferchen schützend. Und das war’s, das war alles. Nichts mehr kam. Kaum dreißig Sekunden, eine Minute später, nach einem Augenblick der Panik und des Wartens, einem ganz dichten Augenblick, in dem nichts mehr passierte und keiner sich rührte, schauten alle sich an, da und dort lag eine Schulmappe, noch hockten sie, aschgrau, naß vom Schnee, noch immer darauf gefaßt, Schutz zu suchen und noch mehr sich einzuigeln, das Schlimmste erwartend, einen neuerlichen Stoß, vielleicht noch stärker – zum zweiten Mal in wenigen Stunden erbebte die Erde, und es konnte jeden Augenblick wieder von neuem anfangen, die Drohung war jetzt allgegenwärtig –, langsam erhoben sich die Menschen wieder und entfernten sich, zerstreuten sich auf der Brücke, während in der Ferne ein unsichtbarer Hund in den trübgrauen Morgen bellte.
    Und mit einem erstickten Schrei warf sich Marie in meine Arme und begann an allen Gliedern zu zittern.
    Wir taten einige Schritte, verstört, mit nassen Kleidern und unseren verbogenen Pantoffeln und den zueinanderpassenden weißen Wollsocken, und suchten Schutz in einer Vertiefung der Brücke, einer Art runden Nische, die zu einer zu den Gleisen steil abfallenden metallenen Nottreppe führte. Marie weinte. Sie weinte, an mich gelehnt, sie wurde von Schluchzern geschüttelt, sie

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