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Sich lieben

Sich lieben

Titel: Sich lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Philippe Toussaint
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Verspätung sich auf fast vierzig Minuten belief, in Japan eine Ewigkeit. Er ging auf Marie zu, hieß sie willkommen und fragte sie sogleich, ob sie sich von den Strapazen der Reise habe erholen können, ob sie die Zeitverschiebung gut überstanden habe, und da nahm Marie, mit jenem Gespür für Showeffekte, jener Exaltiertheit, die ihr ureigenes Geheimnis war, mitten in der großen Marmorhalle theatralisch ihre Sonnenbrille ab und präsentierte ihr bloßes Gesicht im Licht der Lüster, ohne jede Scham, sie hatte nichts zu verbergen, sie schien förmlich in den Raum zu rufen »Ihr wolltet es sehen, nun, schaut her!«, so, als enthüllte sie ihnen eine gräßliche Narbe, eine ausblühende Wunde, einen Gesichtsherpes. Die vier Herren, die Yamada Kenji begleiteten, betrachteten ebenfalls das im Licht der Halle bleiche und müde Gesicht Maries und wußten weder, was sie sagen, noch, was sie tun sollten. Yamada Kenji schien peinlich berührt, gleich zu Beginn eine so ätzende Frage gestellt zu haben, und zerknirscht stand er nun in der Halle, mit gesenktem Kopf, während die anderen, unbeweglich im Halbkreis um Marie versammelt, bedachtsam lächelten und dabei mechanisch mit verblüffter und mitleidiger Miene den Kopf wiegten. Marie, majestätisch, rührte sich nicht und bot das Gesicht noch immer den beißenden Blicken. Aber auch ich schaute sie an, Marie, ich betrachtete ihr Gesicht im Licht der Lüster, und es ist wahr, daß sie ausnehmend schön war diesen Morgen in der schweigenden Darbietung ihrer Blässe und Mitgenommenheit.
    Sobald Marie ihre Brille wieder aufgesetzt hatte, nahm die Zusammenkunft erneut den ruhig-langweiligen Lauf der professionellen Verabredungen, und Yamada Kenji stellte uns die Personen in seiner Begleitung vor, jeder dieser Herren verbeugte sich und zog aus der Hosentasche, der Brieftasche oder einem Etui eine Visitenkarte hevor, die Marie mit einer Mischung aus Höflichkeit und Lässigkeit entgegennahm, wobei sie ihre Sonnenbrille nochmals nach oben schob, um da und dort den Namen auf einer Visitenkarte zu lesen. Lediglich der Name Kawabata, verbunden mit dem Äußeren der Person, glattes, rosafarbenes Haar à la Andy Warhol und hautenge schwarze Lederhose, schien sie einen Augenblick zu interessieren. An der Seite dieses Kawabata, einer einflußreichen Persönlichkeit, wenn nicht sogar Direktor oder stellvertretender Direktor des Contemporary Art Space von Shinagawa, der ruhig an einem Zigarillo nuckelte und in der Hand einen mysteriösen kleinen Leinenkoffer mit glänzendem farbigen Monogramm gun metal sky metallic hielt, befand sich eine Person aus demselben Museum, Herr Morita, ein Finanzmann, eine eher farblose Figur mit abfallenden Schultern, kleiner runder Brille und einem Goldzahn, der während seiner knappen Einwürfe hinten in seinem Mund flüchtig aufblitzte. Es gab außerdem zwei junge Leute von Spiral , augenscheinlich subalterne Gestalten, niedere Angestellte oder Praktikanten, beide sehr jung und sehr ernst, sogar zeremoniell, in Anzügen mit Weste gezwängt, die nicht zu groß, eher gleichsam zu alt für sie waren. Ich für meinen Teil war im Schatten von Marie geblieben und hatte einfach die Augen gesenkt, um alle Welt mit Zurückhaltung zu grüßen.
    Yamada Kenji schlug vor, da er uns das Tagesprogramm mitteilen wollte, sich in eine stille Ecke des Hotels zurückzuziehen, wo man uns Kaffee bringen könne. Unsere Gruppe hatte sich in der Halle in Gang gesetzt, langsam, wie von selbst hatten sich Untergruppen gebildet, Yamada Kenji als Anstandsdame von Marie, die an der Seite dieses Kawabata in Leder marschierte, mit seinem extraflachen Köfferchen, das mehr Dollars gekostet haben dürfte als reinpaßten, ihm immer wieder Fragen stellend, die eine nach der anderen gewissenhaft übersetzt wurden. Ich lief am Ende, zusammen mit den zwei piekfeinen jungen Leuten von Spiral , die mir wortlos zulächelten (sozusagen in Englisch, die friedfertigste Art der Konversation). Auch die junge Angestellte der französischen Botschaft, eine chargée de mission , war schließlich zu uns gestoßen (sie hatte sich offensichtlich in genau dem Augenblick für eine Weile auf die Toiletten verdrückt, als wir in der Halle erschienen waren) und lief neben mir her, überließ Marie ihren Mitarbeitern und den Verantwortlichen des Museums von Shinagawa. Es war eine elegante junge Frau mit einem weiten Mantel aus reiner Schurwolle, die mich mit humorigen Belanglosigkeiten und harmlosen Kleinigkeiten

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