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Sich lieben

Sich lieben

Titel: Sich lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Philippe Toussaint
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von Klimaanlagen herabgestürzt. In beiden Fällen lag das Epizentrum in der Gegend der Halbinsel von Izu. Obwohl es natürlich unmöglich war, in dieser Sache irgend etwas vorherzusagen, bestand doch nach Aussage der Experten kein besonderes Risiko eines neuerlichen Hauptbebens in den kommenden Tagen. Während er sein Köfferchen öffnete, um die wenigen nicht verteilten Programme wieder zu verstauen, äußerte Yamada Kenji zum einen die Vermutung, daß wir das erste, ziemlich schwache Beben nicht gespürt haben dürften, das gegen ein Uhr diesen Morgen aufgetreten war, da wir bereits schliefen, und zum zweiten die Hoffnung, daß das zweite, bei Tagesanbruch, sehr viel heftiger, und das uns, wie er befürchtete, aufgeweckt haben dürfte, uns nicht gleich bei unserer Ankunft ein allzu schlechtes Bild seines Landes vermittelt habe. Nein? Er schaute Marie an. Daraufhin, unmerklich, schwiegen alle und wandten sich Marie zu. Etwas war im Schwange, keiner wußte, was genau, aber allen war es klar, und alle hatten sich Marie zugewandt. Marie saß reglos auf dem Kanapee, den Kopf gerade, das Tagesprogramm in der Hand, und langsam quollen Tränen unter ihrer Sonnenbrille hervor.
    Die Tränen flossen unaufhaltsam über Maries Wangen, mit der Notwendigkeit eines Naturphänomens, wie Flut kommt oder leichter Regen einsetzt, und sie unternahm nichts, um sie zurückzuhalten, sie ließ sie über ihre Wangen kullern, zeigte sie, ohne Prahlerei oder Scham. Und während ich sie, beklommen, mir gegenüber in ihrem Sessel weinen sah, wußte ich, daß es die Erwähnung des Erdbebens gewesen war, die sie ausgelöst hatten, denn das Erdbeben war nunmehr für uns untrennbar mit dem Ende unserer Liebe verbunden.
    Marie stand auf, bat Yamada Kenji, sie zu entschuldigen, trat zu mir unter den Augen aller, die versuchten, zu begreifen, was da vor sich ging, bereit, einzugreifen, um ihr zu helfen oder sie zu stützen, übte einen raschen, aber festen und zugleich flehenden Druck auf meine Schulter aus und bat mich, sie doch bitte zu begleiten. Ich erhob mich und folgte ihr, wir gingen wieder hinunter in die Hotelhalle, ich weiß nicht, wohin, ich folgte ihr, sie schien einen ruhigen Platz zum Reden zu suchen. Schließlich verließ sie das Hotel, trat durch die Schiebetür, und sofort grüßte sie ein Portier in graugrünem Umhang und mit Zylinder und fragte, ob sie ein Taxi wünsche. Wortlos ging sie weiter, ein paar Schritte entfernt, aber immer noch auf dem Vorplatz unter dem Schutz des Vordachs, wartete sie auf mich. Draußen nieselte es, der Himmel war grau, vor uns eine große menschenleere Straße, unterhalb der Privatauffahrt zum Hotel. Autos fuhren vorüber, die Scheinwerfer wegen des leichten Nebels eingeschaltet, einige Taxis, hin und wieder ein Fußgänger. Marie hatte ihren langen Ledermantel noch an, den Kragen hochgeschlagen, und rauchte eine Zigarette auf der Außentreppe, schweigend, gravitätisch. Ich war neben ihr stehengeblieben, den Blick in die Ferne gerichtet, in meinem Kopf schwirrte es, und die Nasennebenhöhlen schmerzten. Sie rauchte weiter, überlegte. Nach einer langen Weile drehte sie sich zu mir um und sagte mühsam, mit leicht erstickter Stimme, daß sie einverstanden sei, daß wir uns trennen. Ich erwiderte nichts. Ich schaute sie an, ich steckte die Hände in die Taschen meines Mantels und spürte an meinen zitternden Fingern das Fläschchen mit Salzsäure. Aber jetzt kann ich nicht, sagte sie, jetzt ist es zu hart. Nicht jetzt, sagte sie, nicht jetzt, und sie packte mich am Arm, ließ die Hand darüber gleiten und in den Stoff meines Mantels zwicken, drückte heftig meinen Arm, um mich zu überzeugen. Ihre Stimme war entschlossen, fast hart. Nicht jetzt, sagte sie, nicht in diesen Tagen hier. In diesen Tagen brauch ich dich.
    Wir sahen Yamada Kenji zögernd aus der Hoteltür treten und uns mit den Augen suchen. Als er uns bemerkte, kam er vorsichtig und mit einem gequälten Lächeln auf uns zu. Wir unterbrachen sofort unser Gespräch, ein Augenblick der Peinlichkeit trat ein, währenddessen er reglos vor uns stehenblieb und an seinem Programm herumfingerte. Dann fragte er Marie ziemlich unbeholfen, ob etwas am Programm ihr nicht gefalle, sie verärgert habe. Verblüfft schaute sie ihn an, wandte sich in einer flüchtigen Bewegung zu mir und lächelte mich unter Tränen an. Nein, nein, geht schon, es ist sehr gut, das Programm, sagte sie, halb lächelnd, halb sich schneuzend.
    In dem Taxi, das uns zum

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