Sich vom Schmerz befreien
dient und einer Belastung bzw. Bedrohung entgegenwirken soll. Dieses Verhalten kann jedoch zu Problemen führen und Bestandteil von Krankheiten werden. »Wie bitte?«, höre ich Sie verwundert fragen, denn Sie erleben Ihren Schmerz sicher nicht als etwas, das Sie selbst produzieren. Er geschieht Ihrer Meinung nach ohne Ihr Zutun und ist automatische Folge körperlicher und/oder psychischer Ursachen. Diesen kausalen Zusammenhang erleben Sie entweder unmittelbar, etwa wenn Sie sich verletzt haben, oder aber Ihr Arzt hat ihn nach einer Untersuchung erörtert. Im naturwissenschaftlich geprägten medizinischen Weltbild ist Schmerz eine logische Folge eines oder mehrerer »Defekte in der Maschine«.
Doch ich lade Sie mit dieser Lektüre ein, Ihren Schmerz mit ein wenig Abstand zu betrachten und sich auf das Gedankenspiel einzulassen, ihn als Ihr eigenes Verhalten zu sehen, zu dem sich Ihr Gehirn auf Grundlage seiner bisherigen Erfahrungen
entschlossen hat. Doch welches Spannungsverhalten bildet die Basis für Schmerz? Es ist - wie bereits im vorangegangenen Kapitel erläutert - die Muskelaktivität. Wissenschaftliche Untersuchungen belegen nämlich, dass sich die bio-elektrischen Vorgänge des Schmerzes (Nozizeption) und der Aktivität der Skelettmuskeln (Motorik) gegenseitig beeinflussen: Muskelspannung verursacht und verstärkt Schmerzen, Entspannung lindert sie, Schmerzen erhöhen die Muskelspannung, was wiederum den Schmerz verschlimmert. Nach unserem »Drei-Ebenen-Modell des Gehirns« (siehe Abb. S. 29) ist unbewusste Muskelaktivität die Basis aller Verhaltensvorgänge des Nervensystems, folglich auch allen Spannungsverhaltens. »Leben ist Bewegung« heiÃt es oft, was auch bedeutet, dass man das Nervensystem nur verstehen kann, wenn man die Muskelaktivität versteht.
Viele Wissenschaftler teilen diese Meinung. So meint etwa der Hirnforscher J.J. Ratey in seinem Buch Das menschliche Gehirn: Eine Gebrauchsanweisung , »dass eine Theorie der höheren Hirnfunktionen ohne Berücksichtigung der motorischen Funktionen auf Sand gebaut ist«. Jedes willentliche und bewusste Tun, jede Emotion, jeder Gedanke und somit jede intellektuelle Leistung gäbe es ohne Muskelaktivität nicht. Erst durch sie werden Angst, Freude und Wut, werden konkrete Gedanken, Wünsche und Erinnerungen als solche erlebt, sodass man darauf reagieren kann. Die Muskulatur ist das Fundament der Psyche.
Vielleicht haben Sie das auch schon mal erlebt: Während des Joggens durch den Wald, wenn die Muskeln harmonisch im Rhythmus schwingen, werden Ihnen plötzlich Zusammenhänge bewusst, und plötzlich fliegt Ihnen die Lösung für ein Problem zu, welches Sie schon seit geraumer Zeit beschäftigt, auch wenn Sie in dem Moment gar nicht darüber nachgedacht haben. Wie eine »Eingebung«. Der Neurophysiologe Roger Sperry kommt im Rahmen seiner Studien zu dem Schluss, dass ein Nervensystem
eigentlich nichts anderes tut, als Muskelaktivitäten zu koordinieren. Das bedeutet, letztendlich gäbe es ohne Muskelaktivität auch keine bewusste Wahrnehmung - vor allem keine Selbstwahrnehmung. Wir hätten kein Gefühl für uns selbst und würden unseren Körper nicht als unseren eigenen erleben. Unsere Identität wird durch die Aktivität unserer Muskulatur, genauer gesagt unsere Muskelspannung bestimmt.
Wenn also Muskelaktivität die Basis allen Verhaltens, aller körperlichen und psychischen Vorgänge ist, bedeutet das auch, dass es ohne Muskelspannung keinen Schmerz gibt. Nozizeptive Prozesse wären ohne die Muskulatur bedeutungslose biochemische und elektrische Abläufe, erst durch sie werden sie zum Schmerz! Das »Spannungsmodell« erklärt also das Verhalten »Schmerz« über das Verhalten »Muskelspannung«.
Folglich muss es auch zum Ausgangspunkt für die Schmerztherapie werden. Machen wir auf den folgenden Seiten einen kleinen Ausflug in die Motorikforschung und sehen wir uns an, wie wir unsere Muskelaktivität steuern.
Wie wir unsere Muskeln steuern
Für die Entwicklungsgeschichte des Lebens auf der Erde spielt die Muskulatur eine entscheidende Rolle. Lebewesen überlebten und konnten sich fortpflanzen abhängig von ihren Möglichkeiten, sich zu bewegen, also Gefahren zu entkommen, an Nahrung zu gelangen und Geschlechtspartner zu finden. Die Entwicklung der Bewegungsfähigkeit begann mit ersten primitiven
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