Sich vom Schmerz befreien
Sicht entstanden (basierend auf den soeben skizzierten Muskeldefinitionen und -tätigkeiten) verschiedene Vorstellungen über die Steuerung von Bewegung und Haltung - sie wird allgemein als »Willkürmotorik« bezeichnet. Mit anderen Worten: Skelettmuskeln sind willkürliche Muskeln, das motorische Zentrum in der GroÃhirnrinde ist der »Macher«, der Ausgangspunkt aller Willkürmotorik. Willkürbewegungen werden durch ein Programm im Kopf initiiert, koordiniert und gesteuert, demnach müssten sie auch willentlich zu verändern sein. Dafür werden sie isoliert trainiert, entspannt und geschult, und man geht davon aus, dass sie sich anschlieÃend wieder in den Gesamtvorgang einfügen. Letztendlich geht es also darum, das Programm der Skelettmuskeln zu entschlüsseln.
Aus alternativer Sicht stellt sich dies anders dar. Haltung und Bewegung werden nicht nach einem festen Programm gesteuert, sondern sind Prozesse im Organismus und Gehirn, die sich bei jedem Menschen fortwährend individuell ändern bzw. sich anpassen. Entsprechend werden für die Muskelaktivität die bio-elektrischen Aktivitäten aller Bereiche des Nervensystems ständig aufeinander abgestimmt. Warum ist das so? Und wieder erhalten wir Antwort aus der Hirnforschung.
Wie bereits erwähnt, sind in jedem Muskel alle Arten von Muskelfasern enthalten. Da unterschiedliche Muskelfaserarten ihre Befehle aus unterschiedlichen Bereichen des Nervensystems erhalten, wird bereits bei der Kontraktion eines einzigen Muskels das Prinzip offensichtlich, dass daran alle Bereiche des Nervensystems beteiligt sind. Dies gilt natürlich in besonderem
MaÃe für eine Bewegung, die sich aus einem Zusammenspiel mehrerer Muskeln ergibt. Was bedeutet das im Einzelnen? Zum einen, dass der Ausdruck »Willkürbewegung« irreführend ist, da es sich dabei immer hauptsächlich um unbewusste Muskelaktivitäten handelt. Sie sind die Basis und wir ahnen teilweise nicht einmal etwas von ihnen. Das heiÃt auch, dass in jeder Körperhaltung, jeder Bewegung und im Atmen immer Gedanken, Erwartungen, Gefühle, Empfindungen und vor allem Emotionen zum Ausdruck kommen: Uns sitzt die »Angst im Nacken«, wir erkennen einen Menschen an seinem »traurigen Gang« oder bemerken seinen »nachdenklichen Gesichtsausdruck« - die Emotion zeigt sich sichtbar in der Muskelaktivität. SchlieÃlich bedeutet das, dass sich auch Organfunktionen in unseren Bewegungen widerspiegeln.
Umgekehrt muss man sich klarmachen, dass beispielsweise die Emotion Angst ebenfalls ein muskulärer Prozess ist und dass sich Körperbewegungen auch in der Funktion von Organen zeigen. Bezieht man die Zirkularität mit ein, bedeutet dies, dass unser Nervensystem unsere Muskelaktivitäten steuert und diese rückwirkend das Nervensystem beeinflusst.
Letztendlich müssen wir also unsere Vorstellung von Bewegung revidieren. Dies zeigt sich bereits in modernen systemtheoretischen Theorien der Motorikforschung, in denen man weggeht von linearen hierarchischen Erklärungen. Das oberste motorische Zentrum muss also nicht der Ursprung und »Macher« einer Bewegung sein, dem sich sämtliche unbewussten Vorgänge anpassen. Alle Bereiche produzieren ihr Verhalten und wählen dazu nach ihren Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten zwischen verschiedenen Wegen aus (siehe »Trampelpfad« auf S. 33 f.). Die Funktion bestimmt die Struktur! Denn die strukturelle Beschaffenheit eines Muskels passt sich an die Art an, wie er gesteuert wird.
Dies zeigt sich in verschiedener Hinsicht: Zum einen verändern sich die passiven Bindegewebsstrukturen je nach Gebrauch.
Ein trainierter Muskel wird dicker, und im Zusammenhang mit Schmerzen werden oft strukturelle Veränderungen wie »Verkürzung«, »Verklebung« oder »Degeneration« als Ursachen genannt (siehe Kapitel 2). Aber auch sie sind keine »mechanischen« Veränderungen in der Maschine, sondern aktive Anpassungen an den Körpergebrauch. Darüber hinaus verändern sich dabei auch die Anteile der aktiven Muskelfasern, und es wurde nachgewiesen, dass aus einer Faserart eine andere werden kann. Das geht so weit, dass ein Muskel, der operativ an eine andere Stelle im Körper verpflanzt wird und dadurch eine neue Funktion erhält, auch seine strukturelle Beschaffenheit völlig verändert. Diese wiederum bestimmt die Wahrscheinlichkeit für die Art und
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