Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Sich vom Schmerz befreien

Titel: Sich vom Schmerz befreien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Weitzer
Vom Netzwerk:
sporttherapeutisch begleitetes Programm (Nordic Walking). Er fand bald wieder Spaß am Laufen, bewegte sich viel in der Natur
und fühlte sich fit. Zunächst war nur der Rückenschmerz hinderlich, der eine Zeit lang wieder verstärkt auftrat. Doch dieser verlagerte sich dann - zunächst erneut zum Erstaunen von Herrn M. -allmählich nach oben, und im weiteren Therapieverlauf litt er unter Nacken- und Kopfschmerzen, wie zu seinen schlimmsten Zeiten vor der Reha-Maßnahme, bevor er sie dort durch verschiedenste Maßnahmen (Massagen, Gymnastik, Schmerzmittel) in den Griff bekam. Diesmal half das alles nicht, und Herr M. war einige Male kurz davor, die Behandlungen bei mir wegen starker Kopfschmerzen abzubrechen. Doch genauso schnell und scheinbar grundlos, wie die Schmerzen kamen, gingen sie auch wieder. Dann jedoch kam der Rückenschmerz wieder, anschließend der Knieschmerz. Sie wechselten sich immer schneller ab, manchmal wurde sogar während einer Sitzung aus dem einen der andere Schmerz. Herr M. erlebte bewusst, »dass wirklich alles zusammenhängt«.
    Eines Tages dann bekam er während der Behandlung plötzlich schlimme Bauchschmerzen. Auch diese Schmerzen kamen völlig überraschend und ohne jede Ankündigung. Herr M. befand sich gerade in einer Phase tiefer Entspannung auf der Therapiebank und war eingeschlafen. Plötzlich begann er heftig zu atmen, zog die Schultern hoch wie ein verängstigtes Kind, murmelte im Schlaf mit kindlicher Stimme einige unverständliche Worte, war plötzlich hellwach und musste aufstehen, weil ihm der Bauch so wehtat. Er erzählte dann von einem Traum, in dem er als Junge am häuslichen Schreibtisch saß und Hausaufgaben machte. Hinter ihm stand sein Vater, riesengroß und
bedrohlich, und wachte darüber, dass er ja alles richtig machte und sich anstrengte. »Ich hatte im Traum richtig Angst«, erzählte er. Allerdings verstand er dies gar nicht, da er den Vater als sehr liebenswürdig und fürsorglich in Erinnerung hatte. Beim Abschied sagte er: »Ich hoffe, das geht nicht auch wieder los«, und meinte damit die Bauchschmerzen.
    Hier zeigt sich sozusagen das Spannungsverhalten von Herrn M. in einer früheren Version, die hinter dem Rückenproblem steckt. Ausgangspunkt ist der in Kapitel 1 erwähnte »Stopp-Reflex« (S. 42). Es handelt sich, wie beim Start-Reflex, um eine Ur-Stressreaktion, die durch Zusammenziehen und Kleinmachen bereits die ersten Lebewesen vor Gefahr schützt. Bei Säugetieren erfolgt dieser Reflex in Form von Muskelaktivitäten. Wir Menschen spannen dafür sämtliche Beugemuskeln an (vor allem an der Körpervorderseite, also Bauch und Brust), um uns »einzurollen« und keine Angriffsfläche zu bieten. Zum weiteren Schutz aktivieren wir die Schulter-Nacken-Muskeln, indem wir den Kopf zwischen die Schultern ziehen, um uns zu ducken.
    An dieser Reaktion des »Reptiliengehirns« (siehe Abb. S. 29) ist auch das vegetative Nervensystem beteiligt. Es koppelt auch die Angst an den Schmerz. Dies geht so weit, dass jede Angst diese Muskelspannung und umgekehrt diese Muskelspannung immer Angst auslöst, selbst wenn es »eigentlich dafür gar keinen Grund gibt«. So geht das Spannungsmuster des Stopp-Reflexes oft mit Kopfschmerzen sowie - über das VNS - mit Bauchschmerzen einher. Der oben beschriebene »Start-Reflex«, die Basis für Rückenschmerzen, ist also bei Herrn M. ein Schutzreflex, der der Gefährdung durch den »Stopp-Reflex« entgegenwirkt. Herr M. aktiviert seine Rückenmuskeln, um die
Leistungsanforderungen durch den Vater erfüllen zu können. Das Ganze bedeutet eine Gegenspannung: Mit ihr wird zwar die Angstspannung überwunden und Kopf- und Rückenschmerz verschwinden, doch die problematische Muskelaktivität bleibt und wird durch eine andere kompensiert. Das ist typisch für unsere Leistungsgesellschaft und an die Grundeinstellung gekoppelt: »Ich muss kämpfen und mich behaupten.« Herr M. arbeitet also gegen sich selbst, was sehr viel Energie kostet, unökonomisch, belastend und somit schädigend ist. Hier kommt der Rückenschmerz ins Spiel, den Rest kennen Sie.
    In einer solchen Phase des therapeutischen Prozesses, wie ich ihn geschildert habe, stehen bei vielen Patienten psychische Probleme im Vordergrund, vor allem in Form von Angst, depressiven Reaktionen oder auch Aggression (die nicht selten auf den

Weitere Kostenlose Bücher