Sich vom Schmerz befreien
biomechanischen Belastungen ausgesetzt war, die wiederum zu Schutzspannungen führten. Durch diese bewussten und unbewussten Muskelaktivitäten entstanden im unteren Rücken dann Dauerbelastungen und Dauerspannung - das heiÃt: übermäÃige, sogar sichtbare (»Hohlkreuz«) und spürbare (»Verhärtung«) Muskelaktivität.
Es war also dauernd Schmerz notwendig, um den bedrohlichen Spannungen entgegenzuwirken. Dabei verstärkt die eine Gegenspannung eine andere bzw. die Belastung durch sie und macht damit wiederum Schmerzen notwendig. So wird der Schmerz zur Ursache für den Schmerz (Zirkularität). Im Gefolge der Muskelspannung gibt es natürlich strukturelle Veränderungen und Anpassungen (»Verschleië), Schonhaltungen und Ausweichbewegungen, und damit weitere Belastungen. So entsteht eine erste Teufelsspirale aus Belastung, Spannung und Schmerz.
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Nun ist bei dieser Ursachenerklärung die Psyche noch gar nicht berücksichtigt. Wie wir wissen, zeigt sich jeder Spannungsvorgang stets körperlich und psychisch, also auch gedanklich und emotional. Führen nun Tätigkeiten öfters zu Schmerzen, werden sie vom limbischen System als unangenehm und bedrohlich bewertet und somit auch zur psychischen Belastung. Das emotionale Gehirn produziert also (unbewusst) entgegengesetzte Aktivitäten, wodurch das Zusammenspiel aller Muskeln und Muskelfasern zur Ausführung einer Tätigkeit noch unharmonischer, das heiÃt die Muskelspannung noch gröÃer wird. Ãber das vegetative Nervensystem wird, wie wir wissen, Muskelspannung an Emotionen (vor allem Angst) gekoppelt, sie lösen sich gegenseitig aus, kompensieren und verstärken sich (siehe auch S. 43 ff.).
Herr M. beginnt, sich immer verspannter durch seinen Alltag zu bewegen, unökonomisch und damit belastend. Das Schmerzproblem weitet sich aus. Irgendwann produziert Herr M. Spannung und Schmerzen sogar, wenn er sich willentlich gar nicht bewegt. Während unserer Therapie erzählte er des Ãfteren, dass er nachts wegen seiner Rückenschmerzen wach wurde, nachdem er von seiner Arbeit träumte. Im Laufe der Zeit spielte die Psyche eine immer gröÃere Rolle: Es entstanden Konflikte, da Herr M. seinen Beruf einerseits liebt, auf der anderen Seite aber einen inneren Widerstand dagegen entwickelt. Er kann häufiger nicht zur Arbeit gehen und gerät dadurch zusätzlich wegen seines Vorgesetzten unter Druck. Er befindet sich mittendrin in einer Teufelsspirale aus (körperlichen und psychischen) Belastungen, Spannung und Schmerz. Er hat sein ganz persönliches Verhalten Rückenschmerz entwickelt und findet selbst dann nicht heraus, als sein Arbeitsbereich ins Büro verlegt wird und er die ursprünglichen schmerzenden Tätigkeiten nicht mehr ausüben muss.
Teufelsspirale 2: Behandlung, Spannung, Schmerz
Und wie war das mit dem Bandscheibenvorfall, der bei Herrn M. operativ beseitigt wurde? Selbst nach zwanzigjähriger Praxis habe ich noch keinen Menschen gehört, der nach einer derartigen Operation dauerhaft beschwerdefrei war. Früher oder später gab es erneut ein Schmerzproblem, und wenn nicht an derselben, dann an einer anderen Stelle. Sehr häufig kommt es nach einer Operation an der Halswirbelsäule (HWS) zu Schmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule (LWS) und umgekehrt. Oft folgen einem HWS-Problem Kopfschmerzen und/ oder Schmerzen im Schulter-Arm-Bereich, bei einer Bandscheibenoperation an der LWS wird aus dem Rückenschmerz einer in der Hüfte oder - wie bei Herrn M. - ein Knieproblem.
Wie ist das nach dem Spannungsmodell zu erklären? Nun, danach ist die Ursache des Bandscheibenvorfalls dieselbe Muskelspannung (und dadurch Fehlbelastung), die auch zum Schmerz führt. Die reparierende Operation bedeutet nicht automatisch, dass das Nervensystem auch sein Spannungsverhalten verlernt. Vor allem nicht, wenn der Weg tief eingegraben ist. Es besteht weiter und wird durch die Operation auf unvorhersagbare Weise verändert - eventuell verstärkt. So kann es sein, dass nach der »Reparatur« des Rückens der Schmerz an einem anderen Schwachpunkt notwendig ist.
Sehen wir uns dies bei Herrn M. an: Vom Rückenmark im Bereich der LWS führen Nervenverbindungen und damit Steuerungsvorgänge in die Beine - es ist sozusagen die letzte Instanz des Gehirns, von der aus die Willkürbewegung »Gehen« gesteuert wird. Wie bei jedem
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