Sich vom Schmerz befreien
Menschen zeigt sich Muskelspannung immer in der gesamten Muskulatur und findet von der LWS ausgehend unmittelbar auch Ausdruck im Gehen. Nach Operation und Rückenbehandlung entstand bei Herrn M. ein Problem im rechten Knie. Hier zeigt sich also der nächste Schwachpunkt. Er entstand durch das individuelle Gehmuster des Herrn M., an dem ein Vorfall aus der Kindheit groÃen Anteil hatte.
Wie erwähnt, bekam er während der Behandlung plötzlich Schmerzen im linken Sprunggelenk (siehe S. 109), die er sich nicht erklären konnte. In einer späteren Sitzung erlebte er sie erneut, und zwar sehr intensiv. Zugleich erinnerte sich Herr M. daran, wie er mit fünf Jahren auf einen Baum geklettert und heruntergesprungen war, wobei er sich das linke FuÃgelenk schwer verletzt hatte. Es wurde eingegipst und er konnte mehrere Wochen nicht auftreten. Was ihn am meisten erstaunte, war, dass diese Erinnerung sehr bildhaft und mit starken Schmerzen und Emotionen verbunden war und »aus heiterem Himmel« kam, obwohl er seitdem nie mehr daran gedacht hatte. (Ich nenne das eine »Körpererinnerung«.)
Im Moment dieser für das Kind extremen Belastung schützte sich sein Organismus mit allen Spannungsmöglichkeiten, die er zur Verfügung hatte. Die Reaktion grub sich tief ein und bedeutete unter anderem, dass der »kleine Herr M.« den linken Fuà entlastete, indem er das Gewicht mehr auf die rechte Seite verlagerte (Schonhaltung). Dies unterstützte den Heilungsprozess und das Kind hatte das Problem schnell vergessen. Sein Körper jedoch nicht. Denn er befand sich ja in einem Prozess schnellen Wachstums und groÃer Veränderungen und so war ab dem Tag der Verletzung die Entwicklung seines individuellen Gehmusters geprägt durch eine ungleiche Belastung der beiden Körperhälften, die langfristig auch strukturell ihren Ausdruck fand - und zwar in der Beinlängendifferenz und der diagnostizierten Arthrose bei Herrn M. All diese Dinge waren ihm natürlich nicht bewusst. Doch nun zeigten sich die Spannungen nach der Operation ebenfalls in seiner Gehweise und belasteten das rechte Knie, das mit seinen strukturellen Erscheinungen zum Schwachpunkt und somit die Stelle wurde, an der der Schmerz helfen soll.
An diesem Beispiel wird deutlich, wie sehr Spannungswege, die einmal angelegt und tief eingegraben sind, später zu Schmerzen beitragen können - auch wenn die FuÃverletzung, die sie notwendig gemacht hat, selbst nie mehr zum Problem wurde und sogar völlig aus dem Gedächtnis verschwunden war.
Dieselbe Spannung für viele verschiedene Schmerzen
Statt des Fallbeispiels von Herrn M. könnte auch jede andere Geschichte eines Schmerzpatienten stehen. Dabei stünden zwar selbst bei identischen medizinischen Diagnosen und Symptomen hinter jedem einzelnen Schmerzproblem andere objektive Belastungen, Spannungen und Spannungsverläufe,
doch das Prinzip wäre immer dasselbe: Schmerz bezieht sich auf Muskelspannung, und da in dieser immer auch psychische Vorgänge zum Ausdruck kommen, ist Schmerz immer körperlich und psychisch bedingt! Immer stehen Belastungen, Muskelspannungen und Gegenspannungen am Anfang, immer entstehen »Teufelsspiralen«, immer sind es letztendlich subjektives Denken, Fühlen und Wahrnehmen, die auch die objektiven Tatsachen bestimmen, und immer kann das Verhalten Schmerz in seiner Ausprägung und seinem Verlauf nicht vorhergesagt werden.
Im Spannungsmodell handelt es sich nicht um verschiedene Schmerzarten und Schmerzprobleme, sondern um ein dahinterliegendes Spannungsthema, das sich in unterschiedlicher Weise und zu unterschiedlichen Zeitpunkten als Schmerz zeigt. Dabei muss berücksichtigt werden, dass Spannung neben der Skelettmuskulatur stets auch alle anderen Funktionsebenen des Organismus betrifft und auch in einer anderen Symptomatik seinen Ausdruck finden kann. Auch Herr M. erlebte während unserer therapeutischen Zusammenarbeit nicht nur Schmerz-Reaktionen und Schmerz-Veränderungen, sondern reagierte auch auf anderen Ebenen. Dazu später mehr. Zunächst soll der Schmerz im Vordergrund stehen. Wie ging es weiter?
Nach einiger Zeit der Behandlung waren die Beine kaum mehr ein Problem. Das linke Sprunggelenk hatte sich überhaupt nicht mehr gemeldet, die Schmerzen im rechten Knie besserten sich. Dabei nahm Herr M. keine Schmerzmittel mehr ein. Statt Krankengymnastik entschied er sich für ein
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