Sich vom Schmerz befreien
schlimmer wurde - er »musste ja schlieÃlich auch wieder etwas arbeiten«. Dann, während der vierten Behandlungssitzung geschah etwas, womit Herr M. erst einmal nichts anfangen konnte und was ihn verunsicherte. Er lag entspannt auf der Therapiebank, und obwohl ich das schmerzende Knie nicht einmal berührte, begann es plötzlich, noch mehr wehzutun. Der gewohnte drückende Schmerz an der Kniescheibe wurde zu einem »höllisch brennenden und ziehenden«, der das gesamte Knie, also auch die Kniekehle umfasste und »in den Oberschenkel hineinzog«. Dann, nach ungefähr
10 Minuten, war der Knieschmerz weg, dafür meldete sich das linke Sprunggelenk und vor allem der Rückenschmerz. »Das ist genau der Schmerz, den ich vor meiner Bandscheibenoperation hatte!« Herr M. war fassungslos und konnte sich nicht erklären, wie das möglich sei, wo ich »doch bloà meine Hände auf verschiedene Körperstellen gelegt habe« und »wieso jetzt das Sprunggelenk wehtut«, wo er »doch noch nie Probleme hatte«.
Was bringt Menschen wie Herrn M. dazu, sich an Therapeuten wie mich zu wenden und »alternative Methoden« auszuprobieren? In der Regel ist es die Erfahrung, dass unsere Medizin langfristig wenig gegen ihre Schmerzen tun kann. Oft leiden die Betroffenen seit langem darunter, haben sogar Operationen hinter sich und müssen immer mehr Medikamente nehmen, ohne dass es ihnen dadurch besser ginge. »Mir ist bewusst geworden, dass meine Medikamente nicht nur meinen Schmerz, sondern mich als Mensch betäuben«, hat kürzlich eine Patientin gesagt, die mit mir daran arbeitet, ihren Schmerzmittelkonsum zu reduzieren.
Menschen wie Herr M. kommen, weil sie verzweifelt sind oder werden aus demselben Grund von ihrem Arzt geschickt, damit die psychischen Schmerzursachen behandelt werden. Andere haben sich an die Schmerzen gewöhnt, die seit Jahren zu ihrem Leben gehören. In meine Praxis kommen sie dann, weil sich das Problem ohne erkennbaren Grund verschlimmert hat oder ein anderes hinzugekommen ist - ein anderer Schmerz, wie bei Herrn M. im rechten Knie, oder Ohrgeräusche, Schwindelgefühle, Schlafstörungen, Herz-Kreislauf-Symptome »ohne organischen Befund« oder auch psychologische Störungen wie innere Unruhe, Panikattacken oder depressive Phasen.
Am Beispiel von Herrn M. werde ich hier kurz schildern, wie Schmerzen auÃer Kontrolle geraten und zum Problem werden können. Ich weià nicht, wie die Geburt bei Herrn M. verlaufen ist, jedoch auch er legte, wie jeder von uns, aufgrund seiner ersten Erfahrungen von Belastungen, Verletzungen und Krankheiten individuelle Spannungs- und Schmerz-»Trampelpfade« an (siehe S. 53 ff.). Ein gröÃeres Problem wurde der Schmerz für ihn in seinem Beruf als Maschinenschlosser. Er erinnert sich konkret daran, dass eine besonders ungeliebte Aufgabe war, schweres Werkzeug hochzuheben, um es ins Regal zu räumen. Warum wurde das zum Problem? Schon innerhalb eines Muskels arbeiten viele Arten von Muskelfasern, also mehrere Bereiche des Nervensystems zusammen. Bei Belastung verändert sich dieses Zusammenspiel, es entsteht eine Spannung und irgendwann ein erster Rückenschmerz.
Betrachten wir das Ganze aus der Sicht des Nervensystems von Herrn M.: Das älteste »Teilgehirn« des Zentralnervensystems ist das Rückenmark, das innerhalb der Wirbelsäule verläuft. Sie ist sozusagen die letzte, unbewusste Instanz der Bewegungssteuerung. Von hier aus gehen die Kontraktionsbefehle zu den Skelettmuskeln, und hier laufen rückwirkend die sensorischen Informationen aus den Muskeln über ihre Aktivität zusammen. Von hier ausgehend werden auch grundlegende, angeborene muskuläre Schutzreflexe produziert, die ich mehrfach erwähnt habe.
Einer davon, der für die Rückenschmerzen von Herrn M. eine entscheidende Rolle spielt, wird auch als »Start-Reflex« bezeichnet. Dabei handelt es sich um eine Stressreaktion (eine Schutzspannung), bei der Muskeln im Bereich der Lendenwirbelsäule stärker aktiviert werden, um Kräfte zu mobilisieren und um eine Bedrohung bzw. Gefahr zu überwinden. Herr M. benötigte diese Reaktion schon früh in seinem Leben. Die Tätigkeiten als Maschinenschlosser und die individuellen
willentlichen Bewegungsmuster, die Herr M. bisher entwickelte, hatten nun zur Folge, dass der untere Rücken bei bestimmten Tätigkeiten groÃen
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