Sich vom Schmerz befreien
einem chronischen Schmerzproblem als Regulationssystem versagt. Vielleicht wurde es ja von der Evolution überholt, ist zwar bei Tieren noch sinnvoll, reicht aber für den Menschen nicht mehr aus? Da wir alle in unserem Leben Belastungen ausgesetzt sind und da jeder von uns seine Spannungen produziert, müssten wir dann nicht alle auch ein Schmerzproblem haben? In der Tat, Schmerzen sind, wie wir gesehen haben, wichtig für das Ãberleben des Einzelnen. Ohne Schmerzen würden wir nicht sehr alt werden. Er ist eine groÃe Hilfe, wenn es darum geht, unser Leben im Gleichgewicht zu steuern. Wir sind also auf Spannung und Schmerzen angewiesen. Es handelt sich hierbei um ein »Notverhalten«, das langfristig aber zur Bedrohung wird und die Entwicklung hemmen würde. Daher ist es wichtig zu erkennen, wann dieses Verhalten nicht mehr notwendig ist und wir es aufgeben können. Mit Muskelaktivität als Grundlage allen Verhaltens bedeutet ein Leben »im Gleichgewicht«, die richtige Muskelspannung zum richtigen Zeitpunkt zu produzieren und wieder sein zu lassen. Dabei gilt es vor allem, unbewusste Muskelaktivitäten wahrnehmen zu lernen, um sie verändern sowie die willentlichen entsprechend gestalten zu können.
Wenn Schmerz zum Problem wird, hat er also keineswegs hinsichtlich seiner Aufgabe versagt, Spannung zu regulieren. Er reguliert nach wie vor, doch im Rahmen dieses Prozesses werden weiterhin Muskelspannung und damit Schmerzen
produziert. Der Betroffene hat jedoch verlernt, sie wahrzunehmen und zu differenzieren - dies aber ist die Voraussetzung dafür, sie angemessen steuern zu können. Sehen wir uns näher an, was das im Einzelnen und auch für eine kommunikative Schmerztherapie heiÃt.
Die subjektive Welt des Schmerzes
Am Beispiel von Herrn M. wurde gezeigt, dass es einem Organismus bei einem Schmerzproblem nicht mehr gelingt, das komplexe Spannungsverhalten im Muskelsystem differenziert wahrzunehmen und seine Aktivitäten im Gleichgewicht zu steuern. Körperliche und psychische Spannungserscheinungen lösen sich gegenseitig aus und führen zu Muskelspannung und Schmerz. Man ist in einer Teufelsspirale gefangen, aus der man selbst nicht mehr herausfindet. Da psychische Vorgänge bestimmend sind, führt aber deshalb eine Behandlung durch »Reparatur« objektiver Defekte von auÃen oft nicht zum Erfolg, vor allem nicht zu einem langfristigen.
Der Ausweg besteht also darin, dass der Betroffene die Sensibilität für seine Muskelaktivität wieder stärker entwickeln muss. Und genau hier liegt das Problem: Um die Muskelaktivitäten der verschiedenen Bereiche des Nervensystems exakt aufeinander abstimmen zu können, muss man sie spüren. Da aber die Grundlage allen Wahrnehmens Muskelaktivität ist, wird sie durch Muskelspannung, also durch ein unharmonisches Zusammenspiel, beeinträchtigt. Kurz gesagt: Zu viel Muskelspannung verhindert die Wahrnehmung, die der Organismus benötigt, um die Spannung zu lösen!
Das ist also das Problem: Ein Mensch erlebt Schmerzen, und zwar nicht als aktiv produziertes Verhalten, für das sich
sein Gehirn in dem Moment entschieden hat, sondern als etwas, das ihm passiert. Beim akuten Schmerz ist das kein Thema. Er erfüllt seine Regulationsfunktion ohne Probleme. Doch wie schon geschildert, liegt hier möglicherweise bereits der Ausgangspunkt für die Entstehung einer Schmerzproblematik. Daran beteiligt kann sogar die Schmerzbetäubung durch ein Medikament sein: Wenn nämlich auftretender Schmerz stets sofort medikamentös betäubt wird, kann der Organismus nicht lernen, die Muskelspannung mit seiner eigenen Hilfe zu regulieren. Das bedeutet: Spannung und Schmerz bestehen weiter, verstärken sich sogar und die Sensibilität für Muskelaktivität wird geringer.
Herr M. hat dies folgendermaÃen ausgedrückt: »Da produziert mein Gehirn also Schmerzen, um mich auf meine Muskelspannung hinzuweisen und mir zu helfen, sie loszulassen, verstärkt sie aber zugleich und verhindert so, dass ich sie wahrnehmen kann, um sie loszulassen. Spannung und Schmerz machen mich blind für Spannung und Schmerz!« Thomas Hanna, ein bekannter Körpertherapeut, hat in seinem Buch Beweglich sein - ein Leben lang (das ich Ihnen sehr ans Herz legen möchte! - siehe Literatur) den Begriff »sensomotorische Amnesie« geprägt. Damit bezeichnet er den »Verlust an Erinnerung daran, wie
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