Sichelmond
…«
Mayers suchte sich einen Stuhl. Inzwischen war er ebenso blass wie Tallwitz, der noch immer sprachlos gegen die Wand gelehnt im Raum stand. Mayers schob Tabithas Foto näher an Rouven heran, legte einen Zeigefinger darauf und sagte: »Das ist Tabitha Berns. Sie ist die Tochter der Familie, in deren Haus du zuletzt eingebrochen bist.«
»Ich bin dort nicht eingebrochen«, erwiderte Rouven. »Aber ich weiß, was Sie meinen. Tabitha ist die Tochter des Ehepaares, das als letztes entführt worden ist.«
Mayers nickte. »Bis hierher gebe ich dir recht, Junge.«
»Aber?«
Mayers blickte Rouven fest in die Augen. Er suchte nach den richtigen Worten, bevor er sagte: »Sie ist vor sieben Jahren ums Leben gekommen. Bei einem Unfall, der nie richtig aufgeklärt worden ist. Tabitha ist seit sieben Jahren tot.«
R ouvens Hirn drohte zu zerspringen. Er saß seit Stunden hier, im Halbdunkel, den Kopf auf die Hände gestützt, und blickte auf den Fußboden. Mayers und Tallwitz hatten sofort nach Rouvens Nervenzusammenbruch das Verhör abgebrochen und ihn in diese Zelle gebracht, wo die Stille ihm ebenso unerträglich war wie Mayers’ Vernehmung zuvor. Nachdem ihm das Foto gezeigt worden war und Mayers ihm erklärt hatte, dass Tabitha seit Jahren tot war, waren in Rouven mehrere Sicherungen durchgegangen. Eine ganze Weile hatte er geschrien und um sich geschlagen, bis er sich heulend und schluchzend auf dem Boden zusammengekauert hatte und nur noch »Tabitha« geflüstert hatte. Wieder und immer wieder.
Der Boden unter seinen Füßen war ihm genommen worden. Das Herz hatte man ihm entrissen. So zumindest fühlte es sich an.
Sollte Tabitha wirklich eine Einbildung gewesen sein? Das kam für Rouven nicht in Frage. Dafür war alles zu realistisch gewesen.
Andererseits: Es wäre eine Erklärung für so manche Fragen gewesen. Dafür, dass sie kaum über ihre Eltern und deren Verschwinden gesprochen hatte, zum Beispiel. Wenn Tabitha nicht mehr lebte, dann gehörte das Verschwinden ihrer Eltern schon nicht mehr zu ihrer Erfahrung. Sie hatte dann nur ihr eigenes Unglück mit dem verbunden, was sie zu sehen geglaubt hatte, als sie Rouven in der Wohnung begegnet war. Wenn sie ihm begegnet war.
Hatte er es mit einem Geist zu tun? War sie eine Untote, die ihn aufgesucht hatte? Doch wofür? Und warum gerade ihn?
Eine ganz andere Alternative drängte sich Rouven auf. Es war ja auch möglich, dass er sich die Begegnung mit ihr doch einbildete.Vielleicht hatte er ein Foto von ihr in der Wohnung gesehen, und sein Verstand spielte ihm einen Streich.
Oder aber …
Rouven schüttelte es innerlich. Es konnte auch sein, dass er mit ihrem Tod direkt etwas zu tun hatte und nun, Jahre später, noch einmal in die Familie eingedrungen war, um auch den Eltern des Mädchens etwas anzutun. Das würde zu seiner Angst passen, dass er eigentlich ein Verbrecher war. Dass er tatsächlich der Neumond-Täter sein konnte. Vielleicht von einer fremden Macht gesteuert. Oder aber von dem mysteriösen Fremden geführt, von dem Tabitha gesprochen hatte.
Wenn sie zu Rouven gesprochen hatte.
Doch es gab sie ja vielleicht gar nicht.
»Verdammt!« Er schlug mit der Faust gegen die Wand. Er rannte wie eine Labormaus in einem Versuchslabyrinth von Sackgasse zu Sackgasse, von Wand zu Wand, ohne auch nur eine Ahnung zu haben, wo sich der Ausgang befand.
Aus seinen Gedanken.
Aus seiner Situation.
Aus seinem Leben?
Allmählich beruhigte er sich wieder. Mit einer Hand griff er sich an den Hals. An die Wunden, die Tabitha ihm in ihrem Albtraum der vergangenen Nacht in die Haut gerissen hatte. Alles das konnte keine Einbildung sein.
Er atmete schnaufend ein. Es half nichts. Er konnte nicht hier sitzen bleiben und grübelnd darauf warten, dass Mayers ihm am nächsten Morgen seine Fragen stellte. Rouven hatte erst einmal selbst einige Fragen, die er geklärt haben musste.
Er blickte sich um. Es war eine winzige Zelle, gerade so groß, dass das Bett hineinpasste, der Nachttisch und die Toilette mit dem Waschbecken an der Wand. Die Wand, auf die Rouven gerade blickte, bestand aus armdicken Gittern, mit einer eingearbeiteten Zellentür. Rouven erhob sich, packte die Gitterstäbe der Tür und rüttelte daran.Mehr und mehr, doch ihm wurde schnell klar, dass er auf diese Art nicht die Zelle verlassen würde.
Doch es gab kein Zurück. Er musste hier raus. Sich draußen, außerhalb der Zelle, seinen Fragen stellen.
Rouven zerrte an den Stäben, trat dagegen,
Weitere Kostenlose Bücher