Sichelmond
stemmte sich mit aller Gewalt gegen die Eisenstangen, ohne Erfolg.
Schließlich stellte er sich ruhig vor die Gitterstäbe. Er konzentrierte sich. Er spürte, wie der Wunsch zu gehen in ihm wuchs. Wie dieser Wunsch übermächtig wurde. Und mit einem Mal änderte sich die Farbe seiner Augen. Sie hellten sich auf. Das dunkle Braun färbte sich langsam in ein helles Grau. Wärme durchströmte Rouvens Körper, doch diese Wärme nahm er schon nicht mehr wahr. Sein ganzes Wesen befand sich im Prozess der Umwandlung.
»Hallo?«, rief er mit seiner Stimme, die Tabitha wie eine Mischung aus Flüstern und Hauchen vorgekommen war. »Ist da jemand?«
Es brauchte einen Moment, dann waren Schritte zu hören. Die Tür zum Nebenraum wurde geöffnet, und ein uniformierter Polizist kam auf Rouven zu. »Ist was?«
»Hören Sie, bitte«, bat Rouven.
Der Polizist trat näher an ihn heran und erschrak bei Rouvens Anblick. »Junge«, stieß er mit einem italienischen Akzent hervor. »Was ist mit dir?« Die grauen Augen und der hochkonzentrierte Gesichtsausdruck Rouvens jagten dem Mann einen riesigen Schrecken ein.
»Bitte, hören Sie«, wiederholte Rouven, und der Mann ging einen weiteren Schritt auf ihn zu.
»Soll ich dir einen Arzt rufen?«, fragte er besorgt.
Doch statt zu antworten, ließ Rouven beide Hände vorschießen, um den Mann zu packen, kaum, dass dieser nur noch einen Schritt von den Gittern entfernt stand.
»Maledizione!«, fluchte der Polizist, doch er konnte sich gegen Rouvens festen Griff nicht wehren. Rouven zog ihn etwas näher zu sich heran.
»Merda!«, fluchte der Beamte weiter, doch dann wurde er plötzlich still. Ruhig. Fast entspannt.
Rouven hatte zu sprechen begonnen. In perfektem Italienisch sprach er auf den Polizisten ein, der unfähig war, sich gegen Rouvens Worte zu wehren. Im Gegenteil. Rouven sprach so, dass der Mann tief in seinem Inneren bewegt wurde. Mit einem leeren Blick in seinen hellgrauen Augen fand Rouven Worte, die den Polizisten aufmerksam lauschen ließen, während sich dessen Körper mehr und mehr entspannte. Sein Gesichtsausdruck zeigte eine Sehnsucht. Und plötzlich begann der Mann zu weinen. Dicke Tränen liefen ihm über das Gesicht. Und als Rouven geendet hatte, da begann der Mann zu reden. Auf Italienisch berichtete er von seiner Familie, die in Italien auf ihn wartete. Von den schlaflosen Nächten, in denen er an sie dachte und in denen er fast umkam vor Sehnsucht, seine Frau und die Kinder in die Arme schließen zu können. Er erklärte Rouven, warum er hier leben musste, weit entfernt von seinen Lieben. Und dass sie ihm fehlten.
Schließlich begann Rouven wieder zu sprechen. Es gelang ihm, die Gefühle, die der Mann ihm geschildert hatte, in Worten wiederzugeben, die wie Musik in den Ohren des Polizisten klangen. Wie eine Melodie, die sein Herz öffnete und seinen Verstand. Und die ein Mitgefühl in ihm weckte für die aussichtslose Lage, in der sich Rouven befand.
Der Polizist nickte. Er verstand Rouven. Und er hatte nur noch einen einzigen Wunsch: Helfen!
Er zückte seinen Schlüssel und sperrte Rouven die Tür seiner Zelle auf.
»Geh!«, sagte er, noch immer in seinem Italienisch behaftet. »Geh und kümmere dich um deine Angelegenheiten. Und hör auf dein Herz. Das sollte ich auch tun.«
Und während der Polizist weinend auf die Knie sank, machte sich Rouven auf den Weg aus dem Polizeipräsidium.
T abitha rannte.
Lange hatte sie im Flur der Tafel gestanden und einfach nur auf die Stelle geblickt, an der Rouven zuvor bei seiner Festnahme gelegen hatte. Sehr lange.
Sie hatte die Menschen belauscht, die angeregt über das gesprochen hatten, was geschehen war. Und aus all dem Gesagten hatte Tabitha stets eines herausgehört: die unbändige Sympathie, die Rouven von allen hier entgegengebracht wurde. Von seiner offenen Art hatten sie gesprochen. Von seinem besonderen Talent, den Menschen zuzuhören oder Mut zuzusprechen. Ihre Gedanken und Erinnerungen zu teilen.
Und alle waren sich einig, dass keiner unter ihnen Rouven zugetraut hätte, in Häuser einzubrechen und Menschen zu rauben.
Als schließlich eine Kollegin von Anne König wie beiläufig meinte: »Tja, man kann eben keinem Menschen ins Herz schauen, und so wundert man sich doch, welch nette Leute manchmal schwarze Flecken auf der Seele haben«, da war Tabitha davongelaufen. Sie wollte so etwas nicht hören. Sie wollte nicht glauben, dass Rouven – wie er selbst vermutete – ein Täter war.
Und es war
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