Sichelmond
Beschreibungen für die Ängste, die in ihm wüteten, und auch für die Hilflosigkeit, der er sich ausgesetzt sah.
Rouven hörte sich selbst zu, und allmählich verstand er, was hier vor sich ging: Er wurde gerade Zeuge dessen, was Tabitha ihm beschrieben und dessen, was der Polizist vorhin gesagt hatte. Die Stimme, die er gerade in seinem Inneren hörte, war die Stimme, die den Obdachlosen zum Strahlen gebracht hatte, wie Tabitha das ausgedrückt hatte. Und es war die Stimme, die Bertoli die Sehnsucht nach seiner Familie erträglich gemacht hatte.
Und nun war sie dabei, dem Polizisten Rouvens Lage zu veranschaulichen. So intensiv, so innig, wie Rouven selbst es nicht gekonnt hätte. Selbst er wurde von den Worten angerührt, die aus ihm herauskamen. Seine Beziehung zu Tabitha und seine Freundschaft zu Nana – alles das sah er plötzlich völlig klar und in einem ganz anderen Licht. Erst jetzt wurde ihm richtig bewusst, wie sehr er an den beiden hing.
Dem Polizisten erging es ganz ähnlich. In ihm entwickelte sich Verständnis für Rouven. Vor seinem Auge entstanden Bilder. In seinem Herzen entstanden Gefühle. So eindringlich schilderte Rouvens Stimme ihm die Situation, dass der Polizist mit ihm fühlte. Er teilte Rouvens Ängste und Sorgen. Und schließlich griff Bertoli aus freiem Willen in seine Jackentasche, zog die Chipkarte hervor und reichte sie Rouven: »Komm wieder, wenn du Gewissheit gefunden hast.« Er fischte seinen Zellenschlüssel hervor und sperrte die Zellentür auf.
Rouven bedankte sich und ging – noch völlig eingenommen von dem Zauber dieses Moments – aus dem Raum. Allerdings hatte er keine Gelegenheit, zu verarbeiten, was gerade geschehen war. Er hielt mit der Chipkarte Bertolis seine Freiheit in der Hand. Seine Freiheit für nur wenige Stunden. Und diese Zeit wollte er nutzen.
Er blickte sich im Flur um. Dieses Mal erlebte er alles ganz bewusst. Und er wollte keine Fehler machen.
Durch eine offene Bürotür hindurch sah er eine Polizeiuniform an einem Kleiderhaken hängen. Rouven huschte in den Raum, zog sich seine eigene Kleidung aus und schlüpfte in die Uniform. Sie war etwas zu eng, aber daran störte sich Rouven nicht. So angezogen würde er weniger auffallen, wie er dachte.
An den Weg zum Haupteingang konnte sich Rouven noch recht gut von seiner Rückkehr nach der ersten Flucht erinnern. Er schritt eilig durch die Gänge, vermied jedoch zu laufen, weil er damit sicher auffallen würde.
Nachdem er die erste Treppe genommen hatte, entdeckte er am Ende dieses Ganges einen kleinen Nebenausgang. Das winzige grüne Blinklicht, das von einem kleinen Kasten neben der Tür ausging, kam ihm vertraut vor. Und tatsächlich: Als Rouven sich der Tür näherte, erkannte er die Sorte Chipleser wieder, wie er ihn damals vor dem Haupteingang benutzt hatte. Rouven ging darauf zu, in der Hoffnung, auf diese Art nicht an dem Beamten an der Pforte vorbeizumüssen. Und seine Hoffnung bestätigte sich. Rouven zog Bertolis Chipkarte durch den dünnen Schlitz, und sofort ertönte das Schnarren, das die Tür öffnete. Rouven stieß sie auf, hechtete die Stufen vor der Tür hinunter und verschwand im Dunkel der Nacht.
D er Weg zum Park kam ihm unendlich lange vor, doch schließlich hatte er das alte Wasserwerk erreicht. Mit klopfendem Herzen riss er die schwere Eingangstür auf und verharrte. Er spitzte die Ohren und lauschte. Es herrschte völlige Stille in dem Gang, der zur Werkshalle führte. Rouvens Herz klopfte nun noch wilder.
»Nana«, flüsterte er ängstlich, bevor er die Tür hinter sich schloss. Er hatte Angst, weiter hineinzugehen. In seiner Zelle hatte er sich in den vergangenen Tagen und Wochen immer wieder gefragt, wie es Nana wohl ging, jetzt, wo sich niemand richtig um sie kümmerte. Doch er hatte sich in seinen Überlegungen niemals ausgemalt, wie es sein würde, wenn er sie hier nicht mehr antreffen würde.
Oder schlimmer noch: Wenn er sie hier finden müsste, auf dem Boden liegend. Verhungert vielleicht. Zusammengebrochen.
Die Angst in ihm wurde übermächtig. Doch Rouven musste sich ihr stellen.
Er trat weiter in den Gang hinein. Wenige Schritte nur, doch so viel, dass er das Licht auf der anderen Seite des Ganges erkennen konnte.
Licht!
Rouven schöpfte Hoffnung. Endlich wagte er sich weiter vor.
»Nana?«, rief er in die Stille, doch er erhielt keine Antwort.
Erst einmal.
Dann jedoch, kurz bevor er die Halle erreicht hatte, hörte er ihre Stimme. Sie sang. Und
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