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Sichelmond

Sichelmond

Titel: Sichelmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Gemmel
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Nähe.
    Erst jetzt entdeckte Rouven die kleine weiße Tür unter der Treppe. Sie war mit denselben weißen Holzpaneelen ausgekleidet wie der gesamte Rest der Treppe, deshalb war Rouven die Tür zuvor nicht aufgefallen. Erst der winzige goldene Türknauf hatte Rouvens Aufmerksamkeit nun erregt. Beim zweiten Hinsehen konnte er die Umrisse der Tür in der Treppenverkleidung ausmachen, und Rouven verstand: Unter die Stufen war ein kleiner Schrank eingebaut worden.
    Mit dem Schläger in der Hand näherte sich Rouven langsam der Tür. Er lehnte ein Ohr an das Holz und tatsächlich: Er hörte jemanden atmen. Seine Hoffnung, dass lediglich eine Katze in den Schrank gesperrt worden war, bestätigte sich nicht. Hinter der Tür befand sich ein Mensch.
    Das Atmen war kurz und stockend. Gerade so, als wolle derjenige verhindern, dass man ihn hörte.
    Rouvens Hirn arbeitete auf Hochtouren. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder waren es Bewohner dieses Hauses, die sich in dem Schrank versteckt hatten und sich nun fürchteten, von jemand anderem als der Polizei entdeckt zu werden. Oder aber es war ein weiterer Täter, der sich in dem Raum verbarg. Vielleicht derjenige, der Rouven das alles angetan hatte. Vielleicht die Person, die ihn in den Neumondnächten dazu brachte, seine kriminellen Taten zu begehen. Vielleicht war diese Person   – wenn es sie denn gab   – noch hier.
    Rouvens Herz raste in seiner Brust. Langsam zog er die linke Hand von dem Baseballschläger zurück und legte sie um den kleinen goldenen Griff. Er atmete noch einmal tief durch, dann riss er die Tür mit einem Ruck auf.
    Und erstarrte.

B ertoli gingen die Augen über. Die Zelle war leer!
    Wie im Reflex griff er in seine Uniformtasche und fingerte nach seiner Chipkarte. Er atmete erleichtert auf, als er sie hervorzog. Auf diesem Weg war Rouven dieses Mal nicht entkommen.
    Bertoli rüttelte an der Zellentür. Auch auf diesem Weg war Rouven die Flucht nicht gelungen. Die Tür war verschlossen. Der Polizist blickte sich fieberhaft nach allen Seiten um. Es gab keinerlei Anzeichen für eine Flucht. Und das war unmöglich. Bei seinem Dienstantritt am Abend vorher hatte er noch mit Rouven gesprochen. Da hatte sich der Junge in seiner Zelle befunden. Und jetzt, am Morgen, war er verschwunden.
    Bertoli brach der Schweiß aus. Ausgerechnet in seiner Schicht! Er hätte nun den Alarmknopf betätigen müssen, um das gesamte Haus zu warnen.
    Doch Bertoli zögerte. Nach allem, was passiert war, wollte er erst Mayers und Tallwitz informieren. Er rannte zum Telefon und wählte die Büronummer der beiden. Stotternd berichtete er, was geschehen war.
    Und es brauchte keine zwei Minuten, bis die beiden Beamten in den Raum gestürzt kamen und fassungslos in die leere Zelle starrten.
    »Das gibt es nicht!«, hauchte Mayers, und Tallwitz fügte hinzu: »Unmöglich!«
    »Ich kann mir das auch nicht erklären«, sagte Bertoli. »Alles ist verriegelt. Nichts ist angesägt, durchgeschnitten, aufgebrochen, angebohrt   … Es gab auch keinen Menschen, der heute Nacht den Raum betreten hat. Ich verstehe das nicht.«
    Mayers konnte den Blick nicht von der leeren Zelle wenden. »Er kann sich doch nicht einfach in Luft auflösen!«
    Tallwitz rieb sich mit einer Hand über die Augen: »Hier aus dem Gebäude ist noch nie jemand geflohen«, sagte er, doch in diesem Moment hob Bertoli beschwichtigend die Hand: »Nun ja   …«
    Mayers und Tallwitz drehten sich augenblicklich um. Bertoli blickte den beiden schuldbewusst entgegen: »Ich denke, Sie sollten da etwas wissen«, brachte er zögernd hervor. »Darf ich Sie bitten, mich zu begleiten?«
    »Was bedeutet das denn jetzt?«, brummte Mayers missmutig, doch Bertoli blieb ihm die Antwort erst einmal schuldig. Er führte die beiden Kollegen in den unteren Stock, zu dem Sicherheitsraum.

E in Schrei.
    Ein Entsetzensschrei und Augen, in denen blanke Angst zu erkennen war. Doch dann wandelte sich der Blick in den Augen, die Rouven aus dem Schrank heraus ansahen. Aus Panik wurde überraschte Erleichterung.
    Auch Rouvens Augen weiteten sich vor Erstaunen. »Du?«
    Tabitha blickte zu ihm auf. Wie an dem ersten Morgen, an dem sie sich sahen, saß sie gefesselt und geknebelt auf dem Boden, den Rücken gegen die Wand des Treppenschrankes gelehnt. Rouven ließ sich auf die Knie fallen, Freudentränen in den Augen. »Du bist hier!«, keuchte er und begann hastig, die Fesseln zu lösen. Tabitha riss sich den Knebel aus dem Mund, kaum dass ihre Hände

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