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Sichelmond

Sichelmond

Titel: Sichelmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Gemmel
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Boden, ebenso wie auf dem Sims des Fensterbildes und sogar auf einigen der Kapellenbänke. Eine gewaltige Hitze ging von ihnen aus, und Rouven spürte augenblicklich, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat.
    Er wunderte sich. Von außen hatte die Kapelle leer gewirkt. Verlassen. Kein einziger Lichtschimmer war aus ihr hervorgetreten, als Tabitha und er darauf zugegangen waren. Weder durch das Fenster noch durch die geöffnete Tür war irgendein Licht erkennbar gewesen. Doch nun, hier drin, war der gesamte Innenraum hell erleuchtet. Es schien beinahe so, als strahlten die Kerzen um die Wette. Ihr Licht flutete über die gesamten Wände der Kapelle. Ihre flackernden Bewegungen ließen die grau gestrichenen Wände wie Stoffbahnen erscheinen, die sich im Wind bewegten.
    Rouven blickte sich um. Etwas ging in ihm vor. Eine Gewissheit machte sich breit in ihm. Dieser Raum hatte etwas mit ihm zu tun. Das spürte er eindeutig. Und nicht nur irgendetwas. Diese Kapelle war wie ein Teil von ihm. Er hätte es nicht genauer beschreiben können, doch er fühlte sich hier aufgehoben. Willkommen. Mehr noch als in dem alten Wasserwerk. Es war ihm, als sei er nach Hause gekommen. Er fühlte sich wie ein Wanderer, der nach jahrelangem Herumirren in der Welt die Tür seiner eigenen Wohnung öffnete. Obwohl ihm die Kapelle fremd vorkam, fühlte er sich doch, als betrete er ein Stück Heimat. Es war ein unglaubliches Gefühl. Beinahe so, als   …
    »Alles in Ordnung?« Tabitha war Rouvens Reaktion aufgefallen. »Du schaust auf eine merkwürdige Art.«
    Rouven nickte. »Alles in Ordnung«, bestätigte er. »Und mehr als das. Ich   …«
    Plötzlich schrie Tabitha auf und riss Rouven aus seinen Gedanken und Gefühlen.
    »Was ist?«
    Tabitha zeigte auf das Fensterbild, vor dem sie standen und dem sie bisher vor lauter Staunen über die Kerzen und die Atmosphäre der Kapelle noch keine Aufmerksamkeit geschenkt hatten.
    Rouven wandte den Blick zum Fenster, und er verstand sofort, was Tabitha aufgeschreckt hatte. Noch bevor sie es in Worte fasste.
    »Das bist du«, hauchte sie hervor. »Sieh nur, einer der beiden Kämpfer bist du!«
    Rouven starrte auf das Bild, das durch die flackernden Lichter der Kerzen wie lebendig wirkte. Gerade so, als sei der Kampf dieser beiden Wesen auf dem Fensterbild in diesem Moment zugange.
    Es war eindeutig Rouvens Gesicht, auf das sie beide blickten. Und nicht nur das. Rouven erkannte auch die Symbole an den Ecken des Bildes wieder.
    »Folge den Symbolen«, flüsterte er nachdenklich. Dann holte er tief Luft. Er füllte sich die Lungen mit der heißen, stickigen Luft der brennenden Kerzen und schrie: »Ich bin hier!«
    Der Ruf hallte von den Wänden. Doch nichts geschah.
    Also rief Rouven erneut: »Ich bin hier. So wie du es wolltest. Siehst du mich? Kannst du mich hören? Was willst du von mir?«
    Fieberhaft blickten die beiden sich um, um auch nur die kleinste Veränderung wahrzunehmen. Doch noch immer tat sich nichts. Die Kerzen flackerten wie bisher und ließen die Muster an den grauen Wänden weiterhin tanzen. Stille beherrschte den Raum.
    Rouven trat vor und setzte sich auf die vorderste Kapellenbank. Tabitha folgte ihm und nahm neben Rouven Platz. Sie blickten auf das Fensterbild.
    »Was bedeutet dieses Bild?«, fragte Rouven. »Weißt du etwas darüber?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Heute Nacht sehe ich es gerade so, als wäre ich zum ersten Mal hier. Ich wundere mich selbst, dass ich mich nicht an die Details erinnert habe. An die Symbole, die mir doch in den Sinn hätten kommen müssen, als ich sie zu Hause an der Tür entdeckt hatte. Oder auch dein Gesicht. Warum habe ich nicht sofort an dieses Fensterbild gedacht, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe?«
    Rouven zuckte die Schultern. Sein Blick wanderte zu den Gestalten, die klein im Hintergrund zu sehen waren. »Wofür stehen sie wohl? Was bedeuten sie?«
    Tabitha ließ mutlos die Schultern hängen. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich weiß wirklich nichts, was dir helfen könnte. Ich hätte mich als Kind wohl mehr damit befassen sollen.«
    Rouven blickte sich hektisch um. Er konnte nicht verstehen, dass nichts geschah. Diese Ruhe war beängstigender als alles, was sonst hätte geschehen können. Hatte er sich getäuscht? Vielleicht hatte die Kapelle doch nichts mit ihm zu tun und er bildete sich alle diese Gefühle nur ein. Doch das wollte er nicht glauben. Dafür waren alle Emotionen, die ihn beim Betreten der Kapelle erfasst hatten,

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