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Sichelmond

Sichelmond

Titel: Sichelmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Gemmel
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beim zweiten Blick entdeckte Mayers die Flecken auf dem grauen Anzug und erkannte die abgewetzten Stellen an den Ellenbogen. Ihm fielen die müden Augen des Mannes auf und sein gehetzter Blick. All das ließ vermuten, dass etwas Gravierendes in seiner jüngsten Vergangenheit geschehen sein musste, und erklärte wohl, warum er sich gerade hier, in der Tafel der Stadt, aufhielt.
    »Sie können uns helfen?«, hakte Mayers endlich nach.
    »Gibt es eine Belohnung?«, fragte der Mann schnell und bestätigte damit Mayers’ Verdacht. Von dem Geld, das er einst besessen haben musste, schien wohl nichts mehr übrig zu sein.
    »Nein«, gab Mayers ehrlich zu, dann aber griff er schnell in seine Hosentasche, zog seine Geldbörse hervor und fischte einen Zehner heraus. »Aber den gebe ich Ihnen, wenn Sie uns tatsächlich einen hilfreichen Hinweis liefern.«
    Der Mann griff sich den Geldschein und steckte ihn hastig in seine Jackentasche. Er atmete erleichtert auf, doch im nächsten Moment verfinsterte sich sein Blick. Mayers wusste diese Reaktionen einzuschätzen. Der Freude über das Geld, das er offensichtlich dringend benötigte, folgte das schlechte Gewissen, dass er Rouven nun ausliefern musste.
    »Er hat mich mal in den Park begleitet«, sagte der Mann. »In den Stadtpark. Wir sind von hier aus losgegangen, und ich habe ihm meine Lebensgeschichte erzählt. Er kann wunderbar zuhören, der Junge. Hat sich für alles interessiert, was ich zu sagen hatte. Die guten Zeiten, die weniger   …«
    »Danke«, hakte Mayers ein. »Wo führte der Weg Sie genau hin?«
    »Wir verabschiedeten uns an einer Weggabelung. Vielleicht kennen Sie die Stelle. Unweit des Ententeiches. Wenn man aus der Stadt kommt, teilt sich der Parkweg auf. Eine Richtung führt zu dem Teich, der andere   …«
    »… zum stillgelegten Wasserwerk«, beendete Mayers den Gedankengang und brummelte hervor: »Perfektes Versteck.«
    Auch Tallwitz nickte. »Schnell in der Stadt und schnell wieder verschwunden. Wie geschaffen für den Jungen.«
    Mayers strahlte den Mann begeistert an. Rasch zog er noch einen Fünfer aus seiner Geldbörse und hielt ihn dem Mann hin: »Das ist mir Ihre Information wirklich wert«, sagte er, doch der Mann winkte ab.
    »Nein danke. Behalten Sie es. Ich habe meine dreißig Silberlinge für den Verrat bekommen. Lassen Sie es gut sein.« Und damit wandte er sich ab und ging niedergeschlagen aus der Tür.
    Mayers blickte ihm noch kurz nach. Der Alte tat ihm leid. Doch dann riss ihn seine Ungeduld aus den Gedanken. »Los, Tallwitz. Das war die Info, die wir brauchten. Bald gehört er wieder uns, der Junge. Lass uns schnell im Präsidium Verstärkung holen, und dann schlagen wir zu.«

E s war ein dünner Lichtstrahl, der Tabitha aus ihren Gedanken weckte. Sie hatte die ganze Nacht auf der Bank in der Kapelle zugebracht. Nun blickte sie auf.
    Müde.
    Leer.
    Das Licht drang aus dem Fensterbild zu ihr. Die aufgehende Sonne schien durch das Glas unmittelbar in Tabithas Gesicht.
    Sie sah sich das Bild noch einmal an. Jedoch erneut ohne eine Besonderheit zu erkennen. Dann blickte sie sich in der Kapelle um und erkannte schmerzlich, dass sie sich noch immer allein in dem Gebäude befand.
    »Rouven«, stieß sie hervor. »Wo bist du? Hab ich dich nun auch verloren?«
    Sie erhob sich von ihrem Platz. Es fiel ihr nicht leicht, doch sie wandte sich um und verließ den Raum. »Hier kann ich ja doch nichts für dich tun«, flüsterte sie verzweifelt. »Ich   …«
    Sie stockte, als sie durch die Holztür nach draußen trat. Das war nicht der Friedhof, wie sie ihn kannte. Der Weg   … der Kiesweg   …
    Tabitha trat einen Schritt vor. Es knirschte unter ihren Füßen.
    Der Weg hatte sich verändert. Er verlief nicht mehr geradeaus, zum Tor, so wie Tabitha es seit Jahren kannte. Direkt vor ihren Füßen bog er nun nach links ab.
    Tabitha schaute sich um. Ansonsten war der Friedhof unverändert. Einzig der Weg schlug eine andere Richtung ein.
    Sie fragte sich, was das bedeuten konnte, und schaute sich gleichzeitig nach anderen Menschen um. Doch der Friedhof lag noch verlassen da. Es schien sehr früh am Morgen zu sein. Und kaum ein Mensch suchte bei Sonnenaufgang einen Friedhof auf.
    Die Geräusche der Stadt und des Hafens versicherten ihr, dass sie nicht träumte.
    Tabitha schaute vor sich. Sie folgte mit ihren Blicken dem Kiesweg. Und dann trat sie einen weiteren Schritt vor. Ohne weiter nachzudenken. Dann einen zweiten, einen dritten. Sie schritt über

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