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Sichelmond

Sichelmond

Titel: Sichelmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Gemmel
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den Tabitha noch nie zuvor gesehen hatte. Dann legte sie die Schrift frei: Bernhard Mallert stand in goldenen Buchstaben auf dem Stein.
    »Bernie«, flüsterte Tabitha. Und wieder verstand sie augenblicklich. Ob es nun Alzheimer war oder eine andere Demenz-Erkrankung: Nana brachte augenscheinlich einiges durcheinander. Tabitha hatte schon öfter davon gehört, dass Alzheimer-Betroffene die Menschen ihrer Erinnerung miteinander verwechselten. Bernie war also keiner ihrer Söhne, sondern ihr eigener Mann gewesen. Und Tabitha grübelte kurz, wer dann wohl Arthur sein könnte, bis ihre Blicke auf die Lebensdaten von Rosemarie und Bernie Mallert fielen.
    Tabitha schrie auf. Sie zuckte zurück, und der Busch verdeckte erneut den Stein.
    Tabitha kroch von dem Grab fort, den Blick fest auf das überwucherte Grab gerichtet. Und sie hoffte inständig, sich getäuscht zuhaben. Sie wollte nicht wahrhaben, was ihre Augen erblickt hatten, doch sie war sich ganz sicher, dass sie sich nicht täuschte. Das, was sie gesehen hatte, war eindeutig gewesen. Auch wenn sie es nur für einen Moment gesehen hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde   – das, was ihre Augen erblickt hatten, war die Wahrheit.
    Tabitha sprang auf die Füße und rannte davon. Sie musste fort von hier. Fort von diesem Grab. Raus aus diesem Friedhof.
    Sie rannte und hastete, als könne sie dem davonlaufen, was sie erblickt hatte. Doch die Zahlen hatten sich bereits tief in ihr Gehirn gebrannt. Vor ihrem geistigen Auge sah sie das Datum wieder, das als Sterbetag von Rosemarie und Bernie auf dem Grabstein angebracht worden war. Dieses Datum, das Tabitha so bekannt vorkam.
    Von ihrem eigenen Grab.
    Sie hatte das Datum bereits gestern gesehen, als sie mit Rouven vor ihrem eigenen Grabstein gestanden hatte.
    Es war ihr Datum gewesen.
    Ihr Sterbetag.
    Nana und ihr Mann waren am gleichen Tag gestorben wie Tabitha.
    Und sie rannte. Rannte, um diesem Wissen zu entfliehen.

R ouven schrie vor Schmerzen auf. Die Hitze in seinem Inneren war unerträglich geworden. Noch immer hatte sein Besucher die Hände an Rouvens Schläfen. Der Druck in Rouvens Kopf nahm ihm fast die Besinnung.
    »Erinnere dich!«, schrie ihn sein Gegenüber an, und in diesem Moment erloschen alle Gefühle in Rouven. Die Schmerzen waren verschwunden. Augenblicklich.
    Er öffnete die Augen. Es war nicht der Innenraum der Kapelle, was er sah. Es musste eine Illusion sein. Oder nein   – Rouven riss die Augen auf. Es waren Erinnerungen. Es waren Bilder aus Rouvens Vergangenheit. Sie liefen sekundenschnell vor seinen Augen ab. Einige Bilder, die er bereits aus der Hypnose kannte, aber auch Bilder, die ihm neu waren. Zunächst sah er sich wieder vor der Schule stehen, mit den Pflegeeltern an der Seite. Dann erblickte er sich selbst, wie er mit den Kindern der riesigen Familie spielte. Und auch die Erinnerung mit dem Kapitän an der Schiffsreling erkannte Rouven wieder. Dann folgten weitere Erinnerungen. Bilder aus Rouvens Leben. Die Zeit raste rückwärts, und es war wie eine Reise durch die gesamte Menschheitsgeschichte. Rouven fand sich im Mittelalter wieder, an der Seite eines Ritters in einer Rüstung. Er sah sich in einem Getreidefeld arbeiten, in einer Kleidung, die nur in die frühe Antike der Menschen passen konnte. Schließlich sah er sich sogar neben frühzeitlichen Jägern über eine Hochebene laufen. In der Ferne sah er das Meer und der Fluss, der dort in einem weiten Bogen hinein mündete, ließ Rouven vermuten, dass er sich noch immer genau an der Stelle befand, wo später die Stadt errichtet werden sollte. Vermut l ich stand er genau an der Stelle, an der einmal die Kapelle gebaut werden würde.
    Und mit jedem Bild, das er sah, wurde ihm bewusster, dass es tatsächlich seine eigene Geschichte war, die er vor sich sah. Das alles war er   – dieser Junge, den er stets erblickte, das war Rouven. Er hatte wohl schon immer gelebt. Er war schon seit Urzeiten auf dieser Welt. Und jetzt, hier   – mit all den Erinnerungen vor Augen   – nahm Rouven diese Erkenntnis an. Er wunderte sich nicht. Er sträubte sich nicht. Er akzeptierte das alles als Wahrheit.
    Und mit diesem Bewusstsein stellte sich das Wissen ein, dass er kein Mensch war.
    In diesem Moment wandelte sich das Bild. Die Hochebene der menschlichen Urzeit verschwand, und Rouven sah vor sich ein neues Bild entstehen. Eines, das ihm ebenfalls bewusst war. Schmerzlich bewusst. Eines, das er für sein Leben gern verdrängt hätte, doch dem er

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