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Sichelmond

Sichelmond

Titel: Sichelmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Gemmel
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sich jetzt wieder stellen musste.
    Er sah Tabitha, wie er sie in seinen Händen hielt. Wie er hinter der Kapelle um ihr Leben bangte. Wieder musste er mit ansehen, wie sie ihr Leben aushauchte. Und er hörte diese Stimme hinter sich. Diese Stimme, die ihm inzwischen so vertraut war, dass er sie aus Millionen von Stimmen heraus erkannt hätte: »Deine Schuld. Sie ist wegen dir gestorben!«
    Nun drehte sich Rouven nach der Stimme um. Er blickte von den brennenden Hufen an seiner Seite auf, bis sein Blick den seines Gegners traf. Er sah ihm ins Gesicht, diesem Wesen, das hinter ihm stand und ihn verantwortlich machte für den Tod Tabithas.
    Es war das Gesicht des Stiermenschen aus dem Fensterbild.
    Es war das Gesicht des Besuchers in der Kapelle.
    Es war das Gesicht von Rouvens Widersacher. Und Rouven erkannte ihn endlich.
    »Jachael«, stieß Rouven hervor, und in seiner Stimme spiegelten sich aller Hass und alle Verachtung für dieses Wesen wider.
    Im gleichen Moment löste sich das Bild seiner Erinnerungen auf.Von einer Sekunde zur anderen hielt Rouven nicht mehr Tabitha in den Händen, sondern fand sich wieder in der Kapelle.
    Sein Gegenüber grinste ihm teuflisch ins Gesicht. »Na bitte«, kicherte er und schnalzte genüsslich mit der Zunge. »Geht doch. Weißt du nun, wer ich bin?«
    »Jachael«, gab Rouven flüsternd zurück, und es fiel ihm schwer, diesen Namen auszusprechen. Diesen Namen, den er seit Jahrhunderten verabscheute.
    Diesen Namen, der für alle Schmerzen, Kämpfe und Auseinandersetzungen stand.
    Der Name, der für Rouven schlicht das Böse bedeutete: »Jachael.«

M it einem Donnern, das das ganze Wasserwerk erbeben ließ, stieß Tabitha das Eingangstor auf. Sie hetzte durch den langen Gang und blieb endlich schnaufend und nach Atem ringend vor Nana stehen.
    Die Frau sah Tabitha besorgt an. »Mädchen, was ist denn mit dir? Du siehst ja aus, als sei der Teufel hinter dir her.«
    Tabitha schluckte und versuchte, zur Ruhe zu kommen. »Nana«, brachte sie hervor. »Ich muss mit dir reden.«
    Die Frau lachte. »Aber hör mal, ich kenne dich doch gar nicht. Was sollen wir beide denn zu bereden haben?«
    »Ich möchte dir ein paar Fragen stellen«, antwortete Tabitha schnaufend. Es fiel ihr noch immer schwer, zu sprechen.
    »Fragen? Was denn für Fragen? Wenn es um die Rätselseite in der Zeitung geht, dann sollten wir auf Michael warten, der ist ein echter Fachmann in   …«
    Tabitha schüttelte den Kopf. »Es geht nicht um die Rätsel, es geht um Michael.«
    Eine kleine Sorgenfalte zeigte sich im Gesicht der Frau. »Meinen Jungen? Ist ihm etwas zugestoßen?«
    Allmählich beruhigte sich Tabitha. Das Atmen fiel ihr leichter. »Er ist nicht dein Junge.«
    Die Sorgenfalte vertiefte sich. »Ist er nicht?«
    Tabitha hasste, was sie nun tun musste. Sie hasste diese Situation, und sie hasste sogar sich selbst dafür. Rouven und sie hatten stets Wert darauf gelegt, Nana in ihrer Welt zu lassen. Sie waren beide der Ansicht, dass sie Nana darin bestärken sollten, was sie gerade tat oderdachte. Auch wenn das bedeutete, dass man zwei Stunden lang einen Bollerofen von weißem Quark befreien musste. Doch jetzt, in diesem Moment, konnte Tabitha keine Rücksicht darauf nehmen. Sie hoffte nur, dass es nicht wieder zu einer solch heftigen Situation kommen würde wie vor einigen Tagen, als Tabitha mit Nana am Rand des Parks gestanden hatte.
    »Kannst du dir vorstellen, dass er dein Bruder ist?«, versuchte Tabitha das Gespräch vorsichtig zu eröffnen.
    »Mein Bruder? Michael?« Sie schüttelte den Kopf. »Ach was!«
    »Und Bernie?«
    Jetzt zeigte sich sogar eine zweite Sorgenfalte auf Nanas Gesicht. »Hat er wieder was angestellt?«
    »Ist er auch dein Sohn?«
    »Natürlich! Bernie, Michael und Arthur.«
    Tabitha hob einen Arm und hielt Nana die geschlossene Faust hin. Noch einmal zögerte sie, ob sie diesen Weg wirklich beschreiten sollte, doch dann gab sie sich einen Ruck.
    »Ich möchte dir etwas zeigen.«
    Nana schaute interessiert auf die geschlossene Faust. »Ist es da drin?«, fragte sie und legte, wie ein kleines Kind, den Kopf ein wenig schief, in der Hoffnung, so zwischen Tabithas Fingern schon etwas erspähen zu können.
    »Bitte nicht erschrecken«, sagte Tabitha, dann öffnete sie ihre Hand.
    Nana schaute auf das, was Tabithas Finger freigaben. In ihrem Kopf arbeitete es. Sie besah sich den dünnen goldenen Rahmen und schließlich das leicht vergilbte Bild, das darin steckte.
    »Wo hast du das her?«,

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