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Sichelmond

Sichelmond

Titel: Sichelmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Gemmel
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den Kies. Sie fühlte sich beinahe eingeladen, diesem Weg zu folgen. Gerade so, als habe er eigens für sie die Richtung geändert. Und Tabitha wollte wissen, wohin er sie wohl führen wollte.
    Sie kam an ihrem eigenen Grab vorbei. Der Blick auf den Grabstein mit der goldenen Schrift und dem ruhenden Teddybär davor gab ihr einen Stich. Der Anblick schmerzte, und Tabitha eilte sich, dem Weg weiter zu folgen.
    Nicht lange und sie kannte sich nicht mehr aus. Bis hierher war sie als Kind nie gegangen. Sie war stets in der Nähe der Kapelle geblieben, während ihre Eltern sich um das Gebäude gekümmert hatten.
    »Immer in Rufweite«, hatte ihr Vater das genannt. Und Tabitha hatte sich stets daran gehalten.
    Nun führte der Weg sie in den hinteren Teil des Friedhofs, weiter und weiter dem Hafen zu, an scheinbar zahllosen Gräbern vorbei, von denen die allermeisten überwuchert und von der Zeit gezeichnet waren.
    Schließlich endete der Weg. Direkt vor einem der vielen Gräber.
    Tabitha blieb stehen. Es war ein Doppelgrab, auf das sie schaute. Eines, wie es viele weitere auf diesem Friedhof gab. Auch hier überwucherten bereits Pflanzen die ganze Ruhestätte. Büsche verdeckten den Blick auf den Grabstein, der in üblicher Weise am Kopfende angebracht worden war.
    Tabitha blickte sich um. Noch immer war keine Menschenseele zu sehen. Das alles kam ihr seltsam vor. Eher gruselig.
    Sie schritt neben der Grabeinfassung entlang, bis sie den Stein erreicht hatte, und ging dort in die Hocke. Sie fasste nach den erstenZweigen des Busches, der den Grabstein bedeckte, und zog sie ein Stück zur Seite.
    Der Grabstein konnte noch nicht sehr alt sein. Er war aus ähnlichem Sandstein gefertigt wie ihr eigener Stein. Und ebenso wie an ihrem Grab wies der Stein weder Grünspan noch sonstige Verwitterungen auf. Tabitha vermutete, dass er erst seit einigen Jahren hier stand. Vielleicht aus der Zeit, in der ihr eigenes Grab errichtet worden war.
    Ein merkwürdiger Gedanke.
    Während sie die Zweige weiter zur Seite schob, kam ein mulmiges Gefühl in ihr auf. Sie begann zu zittern. Der Weg hatte sie hierhergeführt. Doch sie konnte sich nicht erklären, warum.
    Schließlich legte sie einen goldenen Bilderrahmen frei. In den Grabstein eingefasst war das Bild der Verstorbenen, die hier beerdigt worden war.
    Tabitha riss die Augen auf. Aus dem Bilderrahmen heraus schaute Nana sie an. Das Foto der alten Dame war ebenfalls noch sehr gut erhalten, und es gab für Tabitha keinen Zweifel, dass sie es war: Nana.
    Darum also hatte der Weg sie hierhergeführt.
    Hastig drückte Tabitha weitere Zweige zur Seite, um die Inschrift des Steins lesen zu können. Den wirklichen Namen Nanas. Und erneut stieß Tabitha auf eine Überraschung, als sie die goldenen Buchstaben las: Rosemarie Mallert, geborene Berns.
    Tabitha schnappte nach Luft. Diese Erkenntnis nahm ihr den Atem.
    Rosemarie Berns   – die Schwester ihres Vaters?
    Und plötzlich ergab alles einen Sinn. Tabitha wusste mit einem Mal, wer dieser Michael war, von dem Nana immer wieder erzählte. Michael   – einer der drei angeblichen Söhne Nanas, für den sie Rouven immer wieder hielt. Dieser Banker, der verheiratet war und ein Kind besaß.
    Dieser Michael war Tabithas Vater. Er hatte ihr einmal von seiner Schwester erzählt   – Rosemarie. Doch kennengelernt hatte Tabitha ihre Tante nie. Sie wohne nicht in der Nähe, war stets die Antwort der Eltern gewesen, wenn Tabitha nach ihr gefragt hatte. Immer dann, wenn zu Geburtstag und Weihnachten Päckchen und Pakete für Tabitha ins Haus geliefert wurden. Geschenke von ihrer Tante Rosemarie.
    Tabitha hätte sie zu gern einmal getroffen. Allein schon, um sich zu bedanken, denn die Geschenke und Aufmerksamkeiten, die Rosemarie per Post schickte, waren stets mit viel Gefühl ausgesucht worden und passten allesamt zu Tabitha.
    Doch ihr Vater hatte immer nur den Kopf geschüttelt und erklärt, sie wohne zu weit entfernt und ein Treffen sei nicht möglich.
    Doch jetzt schaute Tabitha auf dieses Grab. In dem Friedhof ihrer Stadt. Wenige Autominuten von ihrem Zuhause entfernt. In direkter Nähe.
    Tabitha verstand das alles nicht.
    Ihre Hände drückten, beinahe wie von selbst, die letzten Zweige des Busches von dem Grabstein. Es war ein Doppelgrab, und Tabitha wollte wissen, wer neben Rosemarie in dieser Ruhestätte lag. Wieder gaben die Zweige erst einen goldenen Bilderrahmen mit einem Foto frei. Ein älterer Mann schaute aus dem Rahmen heraus. Ein Mann,

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