Sichelmond
Gegenüber nachdenklich an. »Wer bist du?«
»Ach, komm!« Nun schien der Besucher enttäuscht. »Kannst du dich gar nicht an mich erinnern?« Er legte den Kopf schief und schnalzte laut mit der Zunge.
In Rouvens Kopf überschlugen sich die Gedanken. Er forschte in den wenigen Erinnerungen, die er besaß. Er versuchte, sich all das ins Gedächtnis zu rufen, was er in der Hypnose gesehen hatte, doch nichts von alledem ließ sich mit dem Mann verbinden, dem er nun gegenübersaß.
Der hatte offensichtlich Spaß an dieser Situation. »Keine Ahnung?«, grinste er. »Nicht das kleinste bisschen?«
Rouven verhielt sich still, und sein Gegenüber beugte sich tief zu ihm herab, sodass Rouven in seine gleißend roten Augen blicken musste. »Ich bin enttäuscht. Nach allem, was wir beiden erlebt haben, sitzt du wie ein Häufchen Elend vor mir. Da kommen mir ja die Tränen.«
Und tatsächlich. Rouven sah, wie sich aus den Augen seines Besuchers rote Tränen herausschälten. Sie flossen ihm über das Gesicht, tropften am Kinn ab und fielen Rouven auf die Unterarme. Rouven schrie auf. Es war ein Gefühl, als verbrenne seine Haut an diesen Stellen.
Die blutroten Tränen versiegten, und nun zeigte der Mann wieder sein diabolisches Grinsen. »Kommt dir das alles nicht bekannt vor? Bitte, Rouven. Sag mir, dass du mich nicht völlig vergessen hast!«
Rouven blickte ihn nur schweigend an. Nichts von alledem machte für ihn einen Sinn.
In einer theatralischen Geste ging der andere vor Rouven auf die Knie. »Du Ärmster«, tönte er ironisch. »Alles weg? Keine Erinnerung?« Nun beugte er sich wieder nahe zu Rouven heran. »Dann sag mir nur: War es das wert?«
Rouven ertrug den Anblick dieser leuchtenden Augen nur schwer. »Was meinst du?«
»Das Opfer, das du gebracht hast? War es die ganze Sache wert?«
»Ich verstehe nicht …«
»Tabitha!«, brüllte der andere und sprang wieder auf die Füße. »Findest du immer noch, dass es richtig war, alles für sie aufzugeben? Wirklich alles?«
Rouven fehlten die Worte. Noch immer arbeitete sein Verstand fieberhaft daran, das alles zu verstehen.
Sein Besucher setzte sich neben Rouven auf die Kapellenbank. Er legte einen Arm um Rouven. Allerdings wieder in einer übertriebenen, ironischen Bewegung. Auch sein fieses Grinsen, das er noch immer im Gesicht trug, zeigte, dass dies alles andere als eine freundschaftliche Geste war.
Rouven versuchte, sich zu entfernen, doch welche Kraft auch immer ihn an diese Bank drückte, sie hatte nichts von ihrer Wirkung verloren in den letzten Minuten. Noch immer war es Rouven verwehrt, auch nur eine Handbreit von seinem Besucher abzurücken.
Der drückte Rouven nun fest an sich. Und dort, wo seine Hand auf Rouvens Schulter lag, spürte Rouven eine Hitze aufsteigen.
»Ich war so heiß auf dieses Treffen«, tönte der Besucher. »Ich hatte mich so auf ein Wiedersehen gefreut. Und nun muss ich feststellen, dass du mich nicht mehr erkennst. Das schmerzt, Rouven. Tief in meinem Herzen spüre ich …«
»Hast du überhaupt ein Herz?« Diese Frage war Rouven unwillkürlich entwichen, und sofort ärgerte er sich darüber. Er sollte nicht den Helden spielen. Nicht in dieser Situation. Er wollte sein Gegenüber nicht verärgern.
Doch dieser schien eher amüsiert. »Ah«, lachte er. »Wir kommen der Sache näher. Hat dir dein Verstand diese Frage zugeflüstert, Rouven? Oder war es ein Bauchgefühl?« Er nahm die Hand von Rouvens Schulter, und Rouven war dankbar, dass die Hitze augenblicklich von seiner Haut verschwand. Er beobachtete, wie sein Gegenüber die Hand zur Jacke wandern ließ und sie langsam öffnete. Dann griff sich der Besucher mit der anderen Hand tief in die Brust, ohne dass sich sein fieses Grinsen auch nur für einen Augenblick verlor. Er schien etwas in seinem Brustkorb zu suchen. Schließlich zog er die Hand wieder hervor. Sie war blutverschmiert, und zwischen den Fingern hing ein pochendes Herz. Riesiggroß und tiefschwarz.
»Ja, ist noch da, mein Herz«, kicherte er.
Rouven blickte angewidert auf die Hand seines Rivalen.
Der schlug mit der Faust auf die Bank, sodass es durch die ganze Kapelle dröhnte. Er sprang auf die Füße und stellte sich Rouven gegenüber. Das Grinsen entglitt ihm, und er schaute Rouven mit einer Entschlossenheit in die Augen, dass es dem Jungen heiß und kalt wurde.
»Es reicht!« Er steckte das pochende schwarze Herz in seine Brust zurück. »Hier hört der Spaß auf!«
Rouven versuchte sich von
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