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Sichelmond

Sichelmond

Titel: Sichelmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Gemmel
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fragte sie.
    »Gefunden«, antwortete Tabitha rasch. Sie war auf die Frage vorbereitet und hatte sich schon vorab zu dieser Lüge entschieden. Warum auch sollte sie Nana damit belasten, dass sie dieses Bild mühsam von Bernies Grabstein abgekratzt hatte, um es hierherzubringen.
    »Kennst du den Mann auf dem Foto?«
    Nana nahm das Bild behutsam in beide Hände. »Das Gesicht kommt mir bekannt vor«, sagte sie.
    Tabitha konnte beobachten, wie sich Nanas Gesichtszüge verhärteten. Sie kämpfte gegen ihren Erinnerungsverlust an. Es war zu sehen, wie sehr sie sich wünschte, sich erinnern zu können.
    Tabitha wollte helfen. »Das ist Bernie. Kennst du ihn?«
    »Bernie?« Noch immer starrte Nana angestrengt auf das Foto.
    »Das ist sein Spitzname: Bernie«, erklärte Tabitha. »Eigentlich heißt er anders.«
    Die Sorgenfalten wurden tiefer. »Bernie«, murmelte Nana. »Bernie. Heißt er vielleicht   … vielleicht Ber…«
    Tabitha beugte sich zu ihr vor. »Ja?«
    »Vielleicht Ber… vielleicht Berthold?«
    Tabitha sank enttäuscht in sich zusammen. »Nein«, sagte sie. »Er heißt Bernhard. Kennst du ihn?«
    Nana dachte erneut nach, den Blick fest auf das Bild gerichtet. Doch sie schwieg. Lange. So lange, dass Tabitha schmerzhaft bewusst wurde, dass dies eine Sackgasse war. Der Erinnerungsverlust Nanas war doch weitaus fortgeschrittener, als sie gedacht hätte. Hier würde Tabitha keine Antworten erhalten. Nicht hier und nicht heute.
    Das Schweigen beherrschte den ganzen großen Raum. Bis es plötzlich laut gegen die Stahltür des Wasserwerks pochte.
    Nana wurde sofort aus ihrer Konzentration gerissen, und Tabitha schrie auf vor Schreck.
    »Da ist jemand an der Tür«, sagte Nana.
    Tabitha sprang auf und rannte durch den Gang. Der einzige Mensch, den sie jetzt sehen wollte, war Rouven. Doch der klopfte ganz gewiss nicht an.
    Sie riss die Tür auf.
    Vor dem Wasserwerk stand eine Frau, die Tabitha als eine der ehrenamtlichen Helferinnen der Tafel wiedererkannte. Anne König stand auf dem Namensschild ihrer Arbeitsschürze, die sie noch immer trug. Sie wirkte aufgebracht und erregt. Und vor allem war sieverwirrt, dass die Tür des Wasserwerks sich augenscheinlich von selbst öffnete.
    Tabitha verstand: Anne König konnte sie ja nicht sehen.
    »Hallo?«, rief die Frau an Tabitha vorbei in den Gang. »Rouven, bist du da?«
    »Er ist nicht hier«, sagte Tabitha, obwohl sie wusste, dass die Frau sie nicht hören konnte. Und tatsächlich, Anne König trat in den Gang, ohne auch nur die geringste Notiz von Tabitha zu nehmen.
    »Rouven? Bist du hier?«
    Sie schritt weiter vor. Unsicher. Bis sie die Halle erreicht hatte. Nana saß noch immer am Tisch, doch die Frau bemerkte sie nicht. Ebenso wenig wie sie Tabitha bemerkte, die hinter ihr die Halle des Wasserwerks betrat.
    Anne König sah sich um. »Donnerwetter«, flüsterte sie und blickte sich beeindruckt in der aufwendig eingerichteten Halle um. »Das ist ja richtig gemütlich hier. Hätte ich nicht vermutet.«
    Sie rief noch einmal nach Rouven.
    Nana wandte sich an die Frau: »Kann ich Ihnen helfen?«
    Anne König blickte sich weiter erstaunt um.
    »Hallo?«, hakte Nana nach. »Darf ich wissen, wer Sie sind?«
    Tabitha eilte sich, zu Nana zu kommen.
    »Sie spricht nicht mit mir!«, empörte sich Nana. »Ist doch unverschämt, oder?«
    Tabitha nickte. »Es gibt schon merkwürdige Leute«, sagte sie, und es war ihr wohl dabei, endlich wieder so mit Nana umzugehen, wie sie es gewohnt war.
    Nana wandte sich motzig ab. »Dann spreche ich auch nicht mit ihr!«
    Tabitha musste grinsen, als sie Nanas trotziges Gesicht sah. Die alte Dame wirkte wie eine zu groß geratene Fünfjährige.
    »Du hast recht«, bestätigte Tabitha sie. Und dann beobachtete sie, wie Anne König sich nach einem Zettel und einem Stift umsah. Sie fand beides in dem riesigen Schrank neben der Essecke.
    Mit hektischen Bewegungen schrieb sie etwas auf den Zettel, legte ihn auf den Tisch, dann verließ sie die Halle. Nicht jedoch, ohne sich noch einmal gründlich umzusehen.
    Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, da stürzte Tabitha schon an den Tisch und schaute auf den Zettel.
    »Rouven, die Polizei weiß von diesem Ort«, stand auf dem Zettel. Und weiter: »Sie ist auf dem Weg hierher. Lauf davon. Ich glaube nicht, was man über dich sagt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein guter Mensch wie du solche grausamen Taten vollbringen kann. Geh, bring dich in Sicherheit.«
    Tabitha starrte lange auf den Zettel.

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