Siddharta
Schiff-
brüchiger am Ufer.
Finster begab sich Siddhartha in einen Lustgarten, der ihm
gehörte, verschloß die Pforte, setzte sich unter einem Man-
gobaum nieder, fühlte den Tod im Herzen und das Grauen in
der Brust, saß und spürte, wie es in ihm starb, in ihm welkte, in ihm zu Ende ging. Allmählich sammelte er seine Gedanken
und ging im Geiste nochmals den ganzen Weg seines Lebens,
von den ersten Tagen an, auf welche er sich besinnen konnte.
Wann denn hatte er ein Glück erlebt, eine wahre Wonne
gefühlt? O ja, mehrere Male hatte er solches erlebt. In den
Knabenjahren hatte er es gekostet, wenn er von den
Brahmanen Lob errungen hatte, wenn er, den Altersgenossen
weit voraus, sich mit dem Hersagen der heiligen Verse, im
Disput mit den Gelehrten, als Gehilfe beim Opfer ausge-
zeichnet hatte. Da hatte er es in seinem Herzen gefühlt: »Ein
Weg liegt vor dir, zu dem du berufen bist, auf dich warten die
Götter.« Und wieder als Jüngling, da ihn das immer höher
emporfliehende Ziel alles Nachdenkens aus der Schar Gleich-
strebender heraus- und hinangerissen hatte, da er in Schmerzen
um den Sinn des Brahman rang, dajedes erreichte Wissen nur
neuen Durst in ihm entfachte, da wieder hatte er, mitten im
Durst, mitten im Schmerze dieses selbe gefühlt: »Weiter!
Weiter! Du bist berufen!« Diese Stimme hatte er vernommen,
als er seine Heimat verlassen und das Leben des Samana
gewählt hatte, und wieder, als er von den Samanas hinweg zu
jenem Vollendeten, und auch von ihm hinweg ins Ungewisse
gegangen war. Wie lange hatte er diese Stimme nicht gehört,
wie lange keine Höhe mehr erreicht, wie eben und öde war
sein Weg dahin gegangen, viel lange Jahre, ohne hohes Ziel,
ohne Durst, ohne Erhebung, mit kleinen Lüsten zufrieden und
dennoch nie begnügt! Alle diese Jahre hatte er, ohne es selbst
zu wissen, sich bemüht und danach gesehnt, ein Mensch wie
diese vielen zu werden, wie diese Kinder, und dabei war sein
Leben viel elender und ärmer gewesen als das ihre, denn ihre
Ziele waren nicht die seinen, noch ihre Sorgen, diese ganze
Welt der Kamaswami-Menschen war ihm ja nur ein Spiel
gewesen, ein Tanz, dem man zusieht, eine Komödie. Einzig
Kamala war ihm lieb, war ihm wertvoll gewesen - aber war
sie es noch? Brauchte er sie noch, oder sie ihn? Spielten sie
nicht ein Spiel ohne Ende? War es notwendig, dafür zu leben?
Nein, es war nicht notwendig! Dieses Spiel hieß Sansara, ein
Spiel für Kinder, ein Spiel, vielleicht hold zu spielen, einmal, zweimal, zehnmal - aber immer und immer wieder?
Da wußte Siddhartha, daß das Spiel zu Ende war, daß er es
nicht mehr spielen könne. Ein Schauder lief ihm über den
Leib, in seinem Innern, so fühlte er, war etwas gestorben.
Jenen ganzen Tag saß er unter dem Mangobäume, seines
Vaters gedenkend, Govindas gedenkend, Gotamas geden-
kend. Hatte er diese verlassen müssen, um ein Kamaswami
zu werden? Er saß noch, als die Nacht angebrochen war. Als
er aufschauend die Sterne erblickte, dachte er: »Hier sitze ich unter meinern Mangobäume, in meinem Lustgarten.« Er lä-
chelte ein wenig - war es denn notwendig, war es richtig,
war es nicht ein törichtes Spiel, daß er einen Mangobaum,
daß er einen Garten besaß?
Auch damit schloß er ab, auch das starb in ihm. Er erhob
sich, nahm Abschied vom Mangobaum, Abschied vom
Lustgarten. Da er den Tag ohne Speise geblieben war, fühlte
er heftigen Hunger, und gedachte an sein Haus in der Stadt,
an sein Gemach und Bett, an den Tisch mit den Speisen. Er
lächelte müde, schüttelte sich und nahm Abschied von diesen
Dingen.
In derselben Nachtstunde verließ Siddhartha seinen Garten,
verließ die Stadt und kam niemals wieder. Lange ließ Ka-
maswami nach ihm suchen, der ihn in Räuberhand gefallen
glaubte. Kamala ließ nicht nach ihm suchen. Als sie erfuhr,
daß Siddhartha verschwunden sei, wunderte sie sich nicht.
Hatte sie es nicht immer erwartet? War er nicht ein Samana,
ein Heimloser, ein Pilger? Und am meisten hatte sie dies
beim letzten Zusammensein gefühlt, und sie freute sich mitten
im Schmerz des Verlustes, daß sie ihn dieses letzte Mal noch
so innig an ihr Herz gezogen, sich noch einmal so ganz von
ihm besessen und durchdrungen gefühlt hatte.
Als sie die erste Nachricht von Siddharthas Verschwinden
bekam, trat sie ans Fenster, wo sie in einem goldenen Käfig
einen seltenen Singvogel gefangen hielt. Sie öffnete die Tür
des Käfigs, nahm den Vogel heraus und
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