Sie
meine Schönheit schauen will? Ihm, der mich entschleiert, will ich angehören, will Frieden schenken ihm und die süßen Kinder des Wissens und gute Werke.‹
Und eine Stimme rief: ›Mögen auch alle dich suchen und begehren, höre! Jungfräulich bist du, und Jungfrau sollst du bleiben bis ans Ende aller Zeiten. Kein Mann, kein Sterblicher wird je dir deinen Schleier lüften. Allein der Tod kann dich entschleiern, o Wahrheit!‹
Und die Wahrheit hob flehend ihre Arme und weinte, weil jene, die sie begehrten, sie nie gewinnen, nie ihr Antlitz schauen sollten.«
»Wie du siehst«, sagte Ayesha, als sie geendet hatte, »war die Wahrheit die Göttin des alten Volks von Kôr; ihr weihten sie ihre Altäre, sie suchten sie, obgleich sie wußten, daß sie sie nie finden würden.«
»Und so«, fügte ich traurig hinzu, »ist es bis zum heutigen Tage. Die Menschen suchen sie und können sie nicht finden und werden sie, wie diese Inschrift sagt, nie finden; denn nur im Tod läßt sich die Wahrheit finden.«
Nach einem letzten Blick auf diese verschleierte überirdische Schönheit – die so rein und vollkommen war, daß es fast schien, als leuchte durch die marmorne Hülle eines lebendigen Geistes Licht, die Menschen mit hehren und erhabenen Gedanken zu erfüllen –, auf diesen zu Stein gewordenen Dichtertraum von Schönheit, den ich mein Leben lang nicht vergessen werde, wandten wir uns ab und wanderten durch die weiten mondhellen Höfe zurück zu der Stelle, von der wir aufgebrochen waren. Ich sah diese Statue nie wieder, und dies bedauere ich um so mehr, als auf der großen, die Welt darstellenden Steinkugel, auf der sie stand, Linien gezogen waren, in denen wir wahrscheinlich, wäre es heller gewesen, eine Karte des Universums entdeckt hätten, wie es den Kôrern bekannt war. Auf jeden Fall darf man annehmen, daß diese längst versunkenen Anbeter der Wahrheit über wissenschaftliche Kenntnisse verfügten und erkannt hatten, daß die Erde rund ist.
24
Über die Schlucht
Am nächsten Tag weckten uns die Stummen schon vor Sonnenaufgang, und nachdem wir uns den Schlaf aus den Augen gerieben und uns an den Überresten eines Marmorbeckens im äußeren Hof, aus dem noch immer Wasser sprudelte, gewaschen und erfrischt hatten, erwartete uns Ayesha, zum Aufbruch bereit, bei ihrer Sänfte, während der alte Billali und die beiden stummen Träger sich um unser Gepäck kümmerten. Wie immer war Ayesha verschleiert gleich der Statue der Wahrheit, und mir kam der Gedanke, daß diese sie möglicherweise auf den Gedanken gebracht hatte, ihre Schönheit zu verhüllen. An diesem Morgen jedoch schien sie sehr bedrückt und trug nicht jene stolze, unbekümmerte Haltung zur Schau, an welcher man sie unter tausend Frauen, selbst wenn diese wie sie verschleiert gewesen wären, auf den ersten Blick erkannt haben würde. Sie blickte auf, als wir zu ihr traten – denn ihr Kopf war gesenkt –, und begrüßte uns. Leo fragte, wie sie geschlafen habe.
»Schlecht, mein Kallikrates«, antwortete sie, »schlecht! Seltsame und unheimliche Träume quälten mich in dieser Nacht, und ich frage mich, was sie wohl bedeuten. Mir ist fast, als drohe mir etwas Böses; doch wie könnte mir etwas Böses zustoßen? Würdest du wohl«, fuhr sie mit einem plötzlichen Anflug weiblicher Zärtlichkeit fort, »würdest du wohl, wenn mir etwas Schlimmes geschähe und ich eine Weile schlafen und dich verlassen müßte, meiner liebend gedenken? Würdest du, mein Kallikrates, meiner wohl harren, bis ich wiederkehre, so wie ich viele Jahrhunderte lang auf dich wartete?«
Ohne auf Antwort zu warten, fuhr sie fort: »Kommt, wir wollen aufbrechen, denn wir haben einen weiten Weg vor uns und müssen, bevor ein zweites Mal die Sonne über den Horizont steigt, am Platz des Lebens sein.«
Nach fünf Minuten schritten wir wiederum durch die ungeheure Ruinenstadt, deren Bauten in dem grauen Halbdunkel auf zugleich großartige wie bedrückende Weise um uns emporragten. Im gleichen Augenblick, da der erste Strahl der aufgehenden Sonne gleich einem goldenen Pfeil durch diese steinerne Wildnis schoß, erreichten wir das Tor der äußeren Mauer. Wir warfen einen letzten Blick auf die uralten majestätischen Säulenbauten, stießen – bis auf Job, für den Ruinen keinerlei Reize hatten – einen Seufzer des Bedauerns aus, weil uns keine Zeit blieb, sie näher zu erforschen, und betraten nach Durchquerung des großen Grabens wieder die Ebene.
Mit der Sonne stieg
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