Sie fielen vom Himmel
nicht wäre … Es küßt Dich Dein Peter … So werden sie schreiben, Renate … vielleicht um sieben Uhr morgens. Und der Kurier nimmt die Briefe mit zum Kompaniegefechtsstand, wo sie der Spieß weitergibt an die Bataillonstrosse. Um acht Uhr sind sie in Stellung, und um acht Uhr zehn ist er gefallen, der Peter. Gefallen in seinem Traum, dem schönen Italien …« Dr. Pahlberg atmete tief auf. Er bemerkte die weiten, entsetzten Augen Renates und schüttelte den Kopf. »Vergiß den Unsinn, den ich sagte. Es ist eben Krieg, und die Gefühle des einzelnen sind unwichtig vor den Tatsachen, denen wir gegenüberstehen.«
Renate Wagner lehnte den Kopf an seine Brust. Sie hörte sein Herz schlagen und genoß die Seligkeit, es so nahe zu hören. »Du belügst dich selbst, Erich. Gib es doch zu … du belügst dich mit diesen hohlen Phrasen, die von Berlin unter euch gestreut werden. Im Grunde hast du Angst wie wir alle. Ganz gemeine, hundsgemeine Angst. Vor morgen, vor der nächsten Stunde, vor allem vor dem Tod! Dem Heldentod! Wenn ich das höre, Erich, möchte ich schreien. Schreien mit allen Müttern dieser Erde: Halt! Halt! Ihr trefft ja nicht Feinde mit euren Waffen … ihr trefft die Mütter, Frauen und Bräute! Unschuldige! Denn wir alle sind ja unschuldig … du und ich und alle hier, die in die Züge klettern, um zu sterben! Mein Gott – warum sieht das denn keiner ein …« Sie warf sich herum und verbarg ihr Gesicht an seiner Brust. Er spürte an dem Zucken ihres Rückens, daß sie weinte.
»Die Kriege sind Ausscheidungsprozesse der Völker, hat einmal ein Philosoph behauptet.« Dr. Pahlberg sah hinüber zu der Gruppe Fallschirmjäger. Sie hatten einen Wagen erobert und warfen nun ihre Ausrüstungen durch die Fenster. Ein junger Leutnant stand lachend am Fenster und nahm die fliegenden Bündel in Empfang. Höchstens zweiundzwanzig, dachte Dr. Pahlberg. Notabitur … Grundausbildung … Kriegsschule … Fallschirm-Jägerlehrgang – Front. Ein Kind als Held. Es ist zum Kotzen. »Gäbe es keine Kriege, wäre die Erde übervölkert! Die Hygiene hat die Seuchen vernichtet, die großen Krankheiten, die Epidemien wurden besiegt, das Lebensalter des Menschen ging von 35 auf 70 hinauf! Und es wird weiter geboren … immer mehr, immer mehr … Wo soll der Mensch noch hin? Dann kommt ein Krieg – und siehe, es fallen 3 oder 4 oder 5 Millionen! Wir haben endlich Platz! Hurra!«
»Und diesen Irrsinn machst du mit?« Renate stieß sich von ihm ab. Ihr tränennasses Gesicht war von einer Wildheit, die ihn entgeisterte. So kannte er sie noch nicht. Es war eine fremde Renate Wagner, die ihm gegenüberstand und die Fäuste ballte. »Sieh dich doch um, wie sie zur Schlachtbank geführt werden. Eine Herde Vieh, die dem Leittier nachtrottet. Reiß dich doch los, Erich.«
Dr. Pahlberg sah sie groß an. Sein Blick war abweisend. »Desertieren?«
»Überleben, Erich!«
»Du weißt nicht, was du sagst, Renate. Ich bin Offizier …«
»Sie haben dich zum Offizier gemacht, weil du Arzt bist!«
»Weil ich Arzt bin …« Er sah hinüber zu den jungen Burschen, die singend aus den Waggonfenstern winkten und den Nachrichtenhelferinnen zweideutige Worte nachriefen. Ein Gefreiter mit einem Milchgesicht holte sich in einem Pappbecher Zitronenlimonade … er balancierte sie vorsichtig vor sich her, denn der Becher war randvoll und schwappte bei jedem Schritt über. »Die Jungen brauchen mich«, sagte er fest. »Sie werden nach mir rufen, Renate … nach dem Stabsarzt Doktor Pahlberg. Und sie werden sterben, weil ich nicht da war … weil ich feig war und mich irgendwo verkroch, um zu überleben, wie du sagst. Sie werden krepieren, weil sie der Arzt verließ, der Arzt, Renate … der Helfer in ihrer höchsten Not! Du kennst den Eid des Hippokrates … du weißt …«
»Hippokrates lebte vor 2.000 Jahren! Damals gab es noch Ideale!«
»Sie gibt es heute noch! Es gibt ein Ethos des Berufes. Es ist nicht zu leugnen.« Er zog Renate zu sich heran und legte den Arm um sie. »Aber was reden wir, Kleines. Wir sprechen dummes Zeug. In einer Viertelstunde geht der Zug, und dann dreht sich die Welt doch weiter, ob ich fahre oder nicht. Was ist der einzelne Mensch in dieser Zeit!«
»Du fährst nach Neapel?« fragte sie, nur, um etwas zu sagen. Sie wußte es seit Mittag.
»Zuerst nach Neapel. Dann an die Front nach Salerno.«
Sie versuchte ein Lächeln und sagte das, was seit Jahrhunderten alle Frauen beim Abschied zu ihren Männern sagten.
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