Sie fielen vom Himmel
der Via Casilina, der großen Straße nach Rom, lag der Ort Cassino. Hinter Cassino dehnte sich das Liri-Tal, ein ideales Rollfeld für die Panzer General Clarks, ein weites Aufmarschfeld für den letzten Sturm nach Rom. Wer die Enge zwischen dem Monte Camino und dem Monte Sammucro bezwungen hatte und auf der Via Casilina, nach einem Weg von 20 km durch wildes, schroffes und kahles Gebirge, eintrat in die Ebene von Liri, hatte den Weg frei zur italienischen Hauptstadt.
An der engsten Stelle der Via Casilina aber, die sich drei Kilometer um seinen Fluß schlang, erhebt sich der Monte Cassino, nicht der höchste Berg in der Gebirgskette, aber der wichtigste Riegel zum Liri-Tal. Von seiner Höhe aus konnte man die Via Casilina nach Süden kontrollieren – nach Norden zu lag die weite Ebene vor dem Blick, und es bewegte sich nichts auf ihr, was vom Monte Cassino nicht zu sehen war. Auf dem Berg war, ihn krönend mit hundert blitzenden Fenstern, hineinragend in den Himmel wie tausend betende Hände, der Sonne und Gott näher als jeder andere Mensch in den Niederungen des Rapido und Garigliano, ein Hymnus an den Glauben und ein steingewordener Gesang zum Ruhme Gottes, lag, umgeben von Olivenhainen, das Benediktinerkloster Monte Cassino.
Um den Berg herum, unterhalb des Klosters, zog sich die Gustav-Stellung der deutschen Truppen. Die Sperrmauer zwischen Rom und der vorrückenden 5. amerikanischen Armee.
Felix Strathmann hatte der Gruppe Maaßen nichts von der Bekanntschaft mit Maria Armenata erzählt. Er fürchtete einen Alleingang Theo Kleins in die Monti Picentini. Die Schokolade hatte er selbst gegessen, nachdem er viermal zu der Quelle gefahren war und stundenlang zwischen den verkrüppelten Oliven gesessen und gewartet hatte. Damit es niemand sah, war er auf die Latrine gegangen … hier saß er wehmütig, kaute an der bitteren Cola-Schokolade und verfluchte den Krieg. Die schlichten Worte Marias hatten eine Saite seines Wesens angerührt, von der er überhaupt nicht wußte, daß er sie besaß; etwas war in ihm aufgebrochen, was im Laufe der harten Jahre verschüttet worden war. Er wußte es nicht zu bezeichnen. War es die Anständigkeit oder ein Selbstbesinnen oder ein Blick für die Ereignisse um ihn herum … er sah seit jenem Nachmittag Schatten, die er vordem nicht gesehen hatte, er bemerkte mit Schrecken die Hohlheit im Denken seiner Kameraden und die Primitivität, mit der sie das Leben nahmen und wegwarfen, ganz, wie es der Augenblick erforderte. Die Bedenkenlosigkeit ihrer Taten widerte ihn an, und wenn Theo Klein rülpsend nach einem Mittagessen auf dem Rücken lag und davon schwärmte, wie herrlich jetzt als Nachtisch eine zwei Pfund schwere Mädchenbrust wäre, hatte er das Gefühl, daß ihm übel wurde, und er wandte sich ab. Er kam ins Grübeln, was Heinrich Küppers mit den Worten kommentierte: »Der Felix denkt wieder an St. Pauli – dem müssen wir mehr Soda ins Essen tun!« Er gab dann keine Antwort auf die Frotzeleien, sondern lachte mit, um nicht aufzufallen und seine wahren Gedanken preiszugeben.
Gina Dragomare war in Eboli zurückgeblieben. Stabsarzt Dr. Pahlberg hatte als letzter das Haus verlassen, das ihm als Lazarett diente. Er hatte Gina noch einmal untersucht und fand sie erschöpft und elend, aber glücklich auf dem Rollbett liegen. Dragomare saß neben ihr und hielt ihre Hand. Er wollte aufspringen und Dr. Pahlberg danken, aber er winkte ab und strich Gina über die krausen Locken.
»Mach's gut«, sagte er. Er wußte, daß sie ihn nicht verstand, auch wenn sie ihn anlächelte aus ihren tiefblauen Augen. »Ich lasse das Bett hier und vor der Tür die Fahne mit dem roten Kreuz. Dann wissen die Amis gleich, was im Hause ist.« Er dachte an Oberstabsarzt Dr. Heitmann und schob das Kinn vor. »Heitmann wird toben wegen des Bettes, aber das hörst du ja nicht.« Er tätschelte Ginas schlaffe Hand und nahm ein großes Blatt Papier. ›Operation of birth‹ schrieb er mit Rotstift darauf … das englische Fachwort für Kaiserschnitt fiel ihm nicht ein. Aber sie würden es auch so verstehen, die amerikanischen Kollegen. Das Papier legte er Gina auf die Füße und zog noch einmal die Decke gerade.
»Auf Wiedersehen«, sagte er, sich aus der sentimentalen Stimmung reißend.
»Addio, signore dottore.« Dragomare gab ihm die Hand. Doktor Pahlberg drückte sie fest. Addio … natürlich, addio … auf Wiedersehen war ja dumm. Wie konnte er sie jemals wiedersehen. Morgen war er in Benevento …
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