Sie kamen bis Konstantinopel
seid Ihr?«, fragte Pelagia fassungslos. »Fünfundachtzig Jahre sind es im nächsten August«, antwortete der Senator stolz und trank einen Schluck.
Sein Blick schweifte ab, nun schien er in einer fernen Welt zu weilen, zu der das Mädchen keinen Zugang hatte. Sie gab es auf, in ihn zu dringen, ließ ihn stattdessen einfach reden. An die Zeit seiner Kindheit konnte er sich mit überraschender Klarheit erinnern, an Langobardenbelagerungen, Hungersnöte und Erdbeben. Lebhaft beschrieb er die Tiberüberflutungen, vor allem das große Hochwasser vor gut sieben Jahrzehnten. »So hoch stand das Wasser auf dem Marsfeld, dass viele alte Tempel einstürzten und die Fluten die Kornvorräte der Kirche wegschwemmten. Ich selbst bin sogar mit einem Boot bis in das Pantheon hineingefahren.«
Doch anschließend sei alles noch schlimmer geworden, als die Pest die Stadt heimsuchte. »Die Abergläubischen erblickten Gespenster, berichteten von Erscheinungen in der Luft, und jeden Morgen glaubte man, an den Häusern die Zeichen des Würgeengels zu sehen«, erzählte er. »Menschen wie Tiere starben im Fieber. Wenn man die Körper öffnete, waren sie innen schwarz, die Eingeweide voller Geschwüre …« Der Senator verstummte, sein faltiges Gesicht mit den buschigen Augenbrauen wirkte noch eingefallener als zuvor. »Ohne die Flüchtlinge vor den Langobarden wäre Rom zu einem menschenleeren Friedhof geworden. Selbst als der Papst von der Seuche hinweggerafft wurde, fuhren die Priester fort zu predigen, all das sei die Strafe für unsere Sünden. Gott prüfe uns im Glauben, so wie einst Hiob.« Der Mann lachte, doch es war ein bitterer Laut. »Wer es noch wagte, sich zum alten Glauben zu bekennen, flüsterte, das ganze Elend sei die Rache der Götter, von denen Rom abgefallen war …« Wieder schwieg er, und Pelagia war nahe daran, zu fragen, welcher Ansicht er denn zuneige, als er von neuem zu sprechen begann. »Dann wurde mein Großonkel Gregor zum Papst gewählt. Ich war damals zwölf und kann mich noch an ihn erinnern. Wie er die Bittprozessionen durch die Stadt anführte, wie alle schrien, als sie auf der Brücke vermeinten, den Erzengel Michael über dem Grabmal Hadrians schweben zu sehen, und wie endlich die Pest aufhörte …«
Noch lange verweilte Petronius in den Jahren seiner Jugend. Was in den letzten zwei Jahrzehnten geschehen war, schien dagegen keine Spuren in seinem Gedächtnis hinterlassen zu haben, und stets erkundigte er sich aufs Neue, wie der Name seiner Besucherin sei und woher sie käme. Dafür konnte er in seinem geschliffenen Latein zahllose alte Autoren rezitieren – etwas, das er, wie er mit Stolz erwähnte, auch öffentlich auf dem Trajansforum vor Gleichgesinnten zu tun pflegte. Gebannt lauschte Pelagia dieser Stimme, die aus einer versunkenen Welt zu kommen schien.
Abends servierte Gratia gebratene Flussfische mit Oliven und Brotfladen. Sie saßen noch etwas im flackernden Schein einer Öllampe beisammen, bis Pelagia so müde wurde, dass sie sich überwand und in ihr Zimmer ging. Zu ihrer Überraschung fand sie es zwar noch immer leicht muffig riechend und mit Wänden, auf denen Wasserflecken seltsame Muster zeichneten, ansonsten aber gereinigt vor. Durch die geöffneten Fenster war der verwilderte Garten zu sehen. Als sie sich besänftigt hinausbeugte, roch sie den süßlichen Duft der Rosen und erblickte eine vom Efeu überwucherte Marmorstatue. Grillen zirpten, bald darauf begann eine Nachtigall zu trällern. Doch als Mücken heransurrten, schloss sie hastig das Fenster, legte sich auf die Liege und sann lange über ihre Zukunft nach, bis der Schlaf sie überkam.
***
Am nächsten Morgen war Urso pünktlich zur Stelle und hatte zwei Maultiere mitgebracht. Den ganzen Tag ritten sie durch Rom, und allmählich begann Pelagia zu begreifen, wie es um die Stadt tatsächlich stand. Aus der Ferne schienen die Prunkbauten unversehrt, aber je näher man ihnen kam, umso deutlicher wurden die Zeichen des Verfalls. Nicht weit von des Senators Haus erhob sich die mit Säulen und Nischen verzierte Fassade der Caracallathermen, doch schon seit einem Jahrhundert waren die Feuer erloschen, in deren Wärme sich einst täglich Tausende von Besuchern geräkelt hatten. Innen gähnten leere Marmorbecken, in denen Haufen alter Blätter verrotteten, die der Wind durch zerbrochene Fensterscheiben hereingeweht hatte. Sie schritten über staubbedeckte Mosaike und hoben ihre Blicke zu den leeren Gewölben, in denen
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