Sie kamen bis Konstantinopel
aus Nischen starrten ihr staubbedeckte Statuen nach.
Zuletzt gelangte Pelagia in einen Saal mit großen Fenstern. Sonnenstrahlen, die durch die quadratischen Scheiben fielen, zeichneten ein Gittermuster auf den Boden und die langen Regalreihen. Manche waren zusammengebrochen und leer, in anderen stapelten sich noch, mit Fledermauskot befleckt, die Lederfutterale, die in alten Zeiten zum Schutz von Schriftrollen gedient hatten. In einer rußgeschwärzten Ecke erblickte sie die Reste eines Feuers, eine Amphore lehnte an der Wand, daneben war Stroh zu einer Lagerstätte angehäuft. Es stank nach Urin. Pelagia sah sich um, konnte jedoch keine Menschenseele entdecken. In der Nähe waren die Regale teilweise zerstört, schien jemand Bretter herausgebrochen und Schriftrollen zerrissen zu haben.
Sie bückte sich, hob ein Fragment auf und las, bis sie auf einen ihr wohlbekannten Satz stieß: »Die Städte selbst meiden sie wie mit Netzen umspannte Gräber.« Nachdenklich ließ sie den Papyrusfetzen fallen. »Ammianus Marcellinus über die Alamannen«, murmelte sie gedankenverloren. »Vielleicht finde ich hier auch die Bände seiner frühen römischen Geschichte, die ich schon so lange suche!« Mit klopfendem Herzen ging sie zu dem Regal, zerrte Schriftrollen heraus, ließ sie nach kurzem Blick auf die angehängten Pergamentschildchen achtlos fallen. »Plinius' Naturgeschichte, Tacitus' Germania – kenne ich alles …« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, zog schwungvoll an einer besonders dicken Rolle und hätte beinahe einen Freudenschrei ausgestoßen. »Ammianus Marcellinus. Römische Geschichte, Bücher sieben bis dreizehn!«
In diesem Augenblick wurde sie durch ein Rascheln und Fiepen aufgeschreckt. Sie blickte zu Boden: Ratten liefen zwischen ihren Füßen herum. Fette Tiere mit schwarzen Knopfaugen, langen Tasthaaren und nackten Schwänzen. Pelagia stieß einen Schrei aus, trat hastig zurück, glitt aus, stürzte und schlug mit dem Kopf auf den Boden. Sterne tanzten vor ihren Augen, bevor sie schwarze Nacht verschlang.
***
Flackernder Schein, Knistern eines Feuers. Stroh kratzte an ihrem Genick, Rauch ließ sie husten. Sie schlug die Augen auf. Ein brauner Umriss bewegte sich neben ihr, richtete sich auf, gab das bärtige Gesicht eines Mannes frei. Dunkle Augen starrten unter verfilzten Haarsträhnen hervor.
»Wer bist du?«, fragte Pelagia benommen, richtete sich auf und griff sich an den Hinterkopf, an dem sie eine schmerzende Beule fühlte. »Was treibst du hier?«
»Ich bin Georgios«, antwortete der Mann mit griechischem Tonfall. »Ein Narr Gottes, der an diesen Ort haust, um ihn von dem Schmutz des Heidentums zu reinigen. Was willst du hier?«
»Ich heiße Pelagia«, erwiderte die junge Frau, »und suche nach alten Schriften.« Sie wischte sich den Staub vom Gewand. »Wo ist meine Römische Geschichte?«
Das Gesicht des Mannes zuckte, seine Rechte mit schwarz geränderten, verkrümmten Nägeln wies auf das Feuer. »Da!«, kicherte er. »Wo solch heidnischer Unrat hingehört!«
Pelagia schrie auf, als sie das verkohlte Ende des Lederfutterals erblickte, das am Rande der Flammen aus der Asche ragte. Sie sprang auf, stürzte sich wie eine Furie auf den Mann und wollte ihm die Augen auskratzen. Doch zwei knochige Hände packten sie mit unerwarteter Kraft, so dass sie nur schreien und spucken konnte.
»Halt ein, Sünderin!« Der Mann zwang sie entschlossen zu Boden. »Hör auf mit deinem Treiben, ehe es zu spät ist! Das Ende aller Zeiten steht bevor, denn es hat sich erfüllt, was bei Johannes über diese Stadt geschrieben steht: ›Sie ist gefallen, die große, und ist eine Behausung der Teufel geworden und ein Gefängnis aller üblen Geister und ein Ort der unreinen und verhassten Vögel. Denn von dem Zorneswein ihrer Hurerei haben alle Völker getrunken, und die Könige auf Erden sind reich geworden von ihrer großen Üppigkeit.‹«
Schwer atmend gab Pelagia den Versuch auf, sich aus den Klauen des Mannes zu befreien. »Wieso kommst du widerlicher Schmutzhaufen dazu, mir meinen …«, keuchte sie wütend, doch weiter kam sie nicht, denn eine Klauenhand verschloss ihr den Mund. »Lästere nicht, Gott hat mich berufen«, zischte der Mann, »ganz wie es bei Johannes heißt: ›Und ich hörte eine andere Stimme vom Himmel, die sprach: Gehet aus von ihr, mein Volk, dass ihr nicht teilhaftig werdet ihrer Sünden, auf dass ihr nicht empfanget etwas von ihren Plagen! Denn ihre Sünden reichen bis an den
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