Sie kamen nach Bagdad
die entgegengesetzte Wirkung zu haben.
»Ich bin soeben aus England angekommen«, sagte sie – ihr Tonfall kam dem von Mrs Cardew-Trench bedenklich nahe –, »und ich habe eine sehr wichtige Botschaft für Dr. Rathbone, die ich ihm persönlich überbringen muss. Bitte führen Sie mich sofort zu ihm. Sofort!«, fügte sie hinzu, um gar kein Missverständnis aufkommen zu lassen.
Vor einem stolzen Briten, der entschlossen ist, seinen Willen durchzusetzen, fallen die Schranken fast immer. Das junge Mädchen wandte sich sogleich um und führte sie zum rückwärtigen Ende des Zimmers, eine Treppe hinauf und eine Galerie entlang, von der man den Hof überblicken konnte. Hier blieb sie vor einer Tür stehen und klopfte an.
Eine Männerstimme sagte: »Herein.«
Victorias Begleiterin öffnete die Tür und winkte ihr einzutreten.
»Eine Dame aus England wünscht Sie zu sprechen.«
Victoria trat ein. Hinter einem großen, mit Manuskriptblättern bedeckten Schreibtisch erhob sich ein Mann von ungefähr Sechzig mit einer hohen, gewölbten Stirne und weißem Haar. Wohlwollen, Freundlichkeit und Charme strahlten von ihm aus.
Er begrüßte Victoria mit einem warmen Lächeln und streckte ihr die Hand entgegen.
»Also Sie sind gerade aus England gekommen?«, sagte er. »Ihr erster Besuch im Orient, wie?«
»Ja.«
»Ich frage mich, was Sie von all dem hier denken … Sie müssen es mir irgendwann einmal sagen. Warten Sie, habe ich Sie schon einmal getroffen oder nicht? Ich bin so kurzsichtig und Sie haben mir Ihren Namen nicht genannt.«
»Sie kennen mich nicht«, sagte Victoria, »aber ich bin eine Freundin von Edward.«
»Eine Freundin von Edward«, wiederholte Dr. Rathbone, »das ist aber schön. Weiß Edward, dass Sie in Bagdad sind?«
»Noch nicht«, sagte Victoria.
»Nun, dann wird es eine freudige Überraschung für ihn sein, wenn er zurückkommt.«
Dr. Rathbone lächelte wohl wollend.
»Zurück?«, fragte Victoria mit ersterbender Stimme.
»Ja, Edward ist momentan in Basra. Ich musste ihn wegen einiger Bücherkisten, die für uns angekommen sind, hinschicken. Es gab sehr ärgerliche Verzögerungen bei der Zollabfertigung. Wir konnten sie einfach nicht herausbekommen. Da muss man persönlich Fühlung nehmen, und das versteht Edward vorzüglich. Er weiß genau, wann er liebenswürdig sein und wann er die Leute anschnauzen muss, und er wird nicht ruhen, bis er das Zeug hat.«
»Wann – wann wird Edward aus Basra zurückkommen?«, fragte Victoria tonlos.
»Ja – das kann ich nicht sagen. Er wird nicht zurückkommen, ehe er die Sache erledigt hat – und man darf die Dinge in diesem Land nicht überstürzen. Sagen Sie mir, wo Sie wohnen, und ich werde veranlassen, dass er sich mit Ihnen in Verbindung setzt, sobald er wieder da ist.«
»Ich wollte fragen«, Victoria, im Bewusstsein ihrer finanziellen Notlage, sprach mit dem Mut der Verzweiflung, »ich dachte, ob – ob ich nicht hier irgendetwas arbeiten könnte?«
»Das ist sehr lobenswert«, sagte Dr. Rathbone erfreut. »Wir brauchen alles an freiwilliger Arbeit, was wir kriegen können.«
Das Wort »freiwillig« berührte Victoria unangenehm.
»Ich dachte eigentlich an eine bezahlte Stellung«, sagte sie.
»O weh!« Dr. Rathbone machte ein langes Gesicht. »Das ist schon schwieriger. Unser bezahlter Stab ist sehr klein, aber zusammen mit den freiwilligen Mitarbeitern sind wir im Augenblick ausreichend besetzt. Bei uns ist es eine Geldfrage. Aber auch wenn Sie anderswo eine Stellung annehmen sollten, werden Sie uns hoffentlich in Ihrer Freizeit helfen. Die meisten unserer freiwilligen Mitarbeiter haben einen Beruf. Ich bin überzeugt, Sie werden Ihre Mitarbeit bei uns sehr anregend finden. Diese ganze Barbarei in der Welt muss aufhören, die Kriege, die Missverständnisse, das Misstrauen. Ein gemeinsamer Boden der Verständigung ist das, was wir alle brauchen. Dramatik, Kunst, Poesie – die großen Errungenschaften des Geistes –, da ist kein Platz für kleinliche Eifersüchteleien und Gehässigkeiten.«
»N-nein«, sagte Victoria unsicher.
»Ich habe den Sommernachtstraum in vierzig verschiedene Sprachen übersetzen lassen. Die Reaktionen von vierzig verschiedenen Gruppen junger Menschen auf das gleiche wunderbare literarische Kunstwerk! Junge Menschen – das ist das Geheimnis. Ich habe nur Verwendung für die Jugend. Wenn Geist und Gemüt einmal erstarrt sind, ist es zu spät. Nein, die Jugend ist es, die sich vereinigen muss. Nehmen Sie zum
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