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Sie kamen nach Bagdad

Sie kamen nach Bagdad

Titel: Sie kamen nach Bagdad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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und während der nächsten Dreiviertelstunde vergaß sie den »Ölzweig« vollkommen. Die Gebläse, das schmelzende Metall, die ganze Handwerkskunst wirkte auf die gebürtige Londonerin, die nur an zum Verkauf aufgestapelte fertige Waren gewohnt war, wie eine Offenbarung. Sie wanderte aufs Geratewohl durch den Souk, verließ dann den Kupferbasar und kam zu den gestreiften Pferdedecken und den baumwollenen gestepppten Bettdecken. Hier hatten die europäischen Waren ein völlig anderes Gepräge … In dem überwölbten, kühlen Dunkel wirkten sie exotisch, seltsam, kostbar. Ballen von billigem Kattun in bunten Farben waren eine Augenweide.
    Von dem Ruf » Balek Balek« vorwärts getrieben, drängte sich gelegentlich ein Esel oder ein beladenes Maultier an ihr vorbei oder Männer, die schwere Lasten auf dem Rücken balancierten. Kleine Jungen, Tabletts auf der Schulter oder auf dem Kopf, stürzten auf sie zu. »Schauen Sie, Lady, schauen Sie, Elastik, gutes Elastik, englisches Elastik, Kamm, englischer Kamm?« Die Waren wurden ihr entgegengestreckt, dicht unter die Nase gehalten.
    Victoria wandelte dahin wie in einem glücklichen Traum. Das hieß wirklich leben. An jeder Ecke der großen, weitläufigen, kühlen, überwölbten Welt der Seitengassen stieß man auf etwas völlig Unerwartetes – ein Gässchen voller Schneider, die nähend dasaßen, elegante europäische Herrenmodebilder vor sich, eine Gasse voller Uhren und billigem Schmuck. Ballen von Samt und kostbaren metalldurchwirkten Brokaten, dann bog man zufällig um eine Ecke und schritt plötzlich durch einen Korridor voll billiger, abgelegter europäischer Kleider.
    » Balek!«
    Ein schwer beladener Esel, der hinter ihr herkam, veranlasste Victoria, in ein schmales, nicht überwölbtes Seitengässchen einzubiegen, das sich durch hohe Häuser hindurchschlängelte. Und so kam sie zufällig ans Ziel ihrer Wanderung. Durch eine Öffnung blickte sie in einen kleinen, viereckigen Hof, an dessen äußerstem Ende über einer Tür ein Schild mit der Aufschrift DER ÖLZWEIG sowie ein unmöglich aussehender Gipsvogel mit einem nicht identifizierbaren Zweig im Schnabel angebracht war.
    Victoria eilte freudig über den Hof und durch die offene Tür. Sie befand sich in einem nur schwach beleuchteten Zimmer, voll gestellt mit von Büchern und Zeitschriften bedeckten Tischen. Weitere Bücher waren in Regalen aufgereiht. Es sah ein wenig wie eine Buchhandlung aus mit dem Unterschied, dass hier und dort Gruppen von Stühlen standen.
    Aus dem Dunkel kam ein junges Mädchen auf Victoria zu und sagte in mühsamem Englisch: »Womit kann ich dienen, bitte?«
    Victoria blickte sie an. Sie trug Cordhosen und ein orangefarbenes Flanellhemd und ihr schwarzes, glattes, kurz geschnittenes Haar hing etwas trübselig herunter. So weit hätte sie eher nach Bloomsbury gepasst, aber ihr Gesicht sah nicht nach Bloomsbury aus. Es war ein melancholisches Levantiner-Gesicht mit großen, traurigen, dunklen Augen und einer langen Nase.
    »Ich – hm – ist – ist Dr. Rathbone da?« Es war zum Tollwerden, dass sie Edwards Familiennamen nicht kannte! Sogar Mrs Cardew-Trench hatte ihn Edward Dingsda genannt.
    »Ja, Dr. Rathbone. ›Der Ölzweig.‹ Sie wollen unserer Bewegung beitreten? Ja? Das wäre sehr schön.«
    »Vielleicht. Ich würde – kann ich bitte mit Dr. Rathbone sprechen?«
    Das junge Mädchen lächelte müde.
    »Wir dürfen ihn nicht stören. Ich habe Formulare hier. Ich kann Ihnen alles erklären, dann unterschreiben Sie. Es macht zwei Dinar.«
    »Ich bin noch nicht entschlossen beizutreten«, sagte Victoria, erschrocken angesichts der Erwähnung von zwei Dinar. »Ich möchte Dr. Rathbone sprechen – oder seinen Sekretär. Sein Sekretär würde genügen.«
    »Ich erkläre Ihnen alles. Wir sind hier alle Freunde, Freunde für die Zukunft – wir lesen sehr gute Bücher –, wir lesen einander Gedichte vor.«
    »Dr. Rathbones Sekretär«, sagte Victoria laut und deutlich, »er hat mir ausdrücklich gesagt, nach ihm zu fragen.«
    Ein Ausdruck störrischer Verdrossenheit zeichnete sich in den Zügen des jungen Mädchens ab.
    »Nicht heute«, sagte sie. »Ich erkläre – «
    »Warum nicht heute? Ist er nicht hier? Ist Dr. Rathbone nicht hier?«
    »Ja, Dr. Rathbone ist hier. Er ist oben. Wir dürfen ihn nicht stören.«
    Eine Art angelsächsische Unduldsamkeit ergriff Victoria. Statt freundschaftliche internationale Gefühle zu erzeugen, schien der »Ölzweig«, so weit es Victoria betraf,

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