'Sie können aber gut Deutsch'
macht. Aber
vielleicht denken sie das auch nicht, und ich bin diejenige, die denkt, dass sie denken …
Und dann komme ich. Ich lese, das Übliche, die Texte kann ich fast auswendig, das Spannendste an den Lesungen sind die Fragen danach, das Schönste das Signieren. Ich lese von einem kleinen Mädchen vor, das aus Russland nach Deutschland kommt, die Sprache erst nicht versteht, sich fremd fühlt und später nicht mehr. Die Vorurteile kennt und hasst und ein wenig mit ihrer Herkunft hadert. Ob das Mädchen ich bin, lautet immer die erste Frage nach der Lesung. Manchmal ja, manchmal nein, antworte ich. Manches erfinde ich, an manches erinnere ich mich, bevor ich es aufschreibe, dichte ich alles im Kopf um. Die Damen hören zu, aufmerksam, sie lachen an den richtigen Stellen, sie klatschen nach jedem Kapitel. Angenehme Stimmung im Saal. Der Abend nähert sich den Häppchen. Ich will noch ein letztes Kapitel lesen, das Zahnarzt-Kapitel. Das Zahnarzt-Kapitel handelt von einem Zahnarzt, der etwa zehn russischen Kindern, die mit ihren kaum Deutsch sprechenden Eltern zu ihm kamen, jeweils vier gesunde Zähne zog, um sie dann zu seinem Freund, dem Kieferorthopäden zu schicken, der den Kindern jeweils eine feste Zahnspange für die kommenden drei Jahre verpasste, um ebendiese Lücken zu schließen. Jetzt könnte man anfangen zu rechnen, zehn Kinder à vier Zähne, à zehn Zahnspangen. Man könnte, wenn man wollte, man muss aber nicht.
Ich lese, nicht lauter, nicht leiser, nicht anders als zuvor, aber die Stimmung ändert sich merklich. Anspannung und Unbehagen machen sich in dem kleinen Raum breit.
Am Schluss klatscht niemand.
»Vielen Dank fürs Zuhören. Wenn Sie noch Fragen haben, bin ich gerne bereit, diese zu beantworten«, sage ich.
Normalerweise dauert es einen Moment, bis jemand den Anfang macht und die erste Frage stellt. Abwarten, lächeln, vielleicht einen lockeren Spruch reißen, dann meldet sich meist jemand. Diesmal komme ich nicht mal bis zum Lächeln.
»Also, ich fand das ganz unmöglich, dieses letzte Kapitel, das Sie da gelesen haben. Ganz unmöglich. Also, wie Sie da über Zahnärzte schreiben. Also ganz unmöglich«, fängt die Erste an – eine Zahnarztehefrau?
»Also, ich muss auch sagen, Sie müssen sich schon genau überlegen, was Sie schreiben, wenn Sie schon in unserer Sprache schreiben! Ein bisschen Dankbarkeit kann man doch erwarten!« , lautet der letzte Kommentar. Zwischen diesen beiden Aussagen nehme ich einige weitere Kommentare dieser Art hin. Es tut mir leid, die Mietgebühren für die deutsche Sprache, die wohl nicht die meine sein darf, nicht entrichtet zu haben. Es tut mir leid, mich für die Ehre, in der deutschen Sprache schreiben zu dürfen, nicht bedankt zu haben. Oder hatten sie die Dankbarkeit gegenüber dem betreffenden Zahnarzt, den deutschen Zahnärzten im Allgemeinen vermisst? Ich versäume, dies zu klären.
Den kleineren Blumenstrauß hatte die Schwägerin von Frau Müller überreicht bekommen. Der große bleibt in seiner Vase stehen. Häppchen bekomme ich keine angeboten, dafür drückt mir die für den Abend verantwortliche Dame eine Taxirufnummer in die Hand, bedauert, dass ich den Sinn der Veranstaltung nicht erkannt habe, und gibt mir zum Abschied nicht einmal die Hand. Ich fahre nachhause, für die Zugfahrt habe ich ein Buch dabei in der Sprache der Damen (hätte ich auch dafür Mietgebühren zahlen müssen?), kann mich aber nicht aufs Lesen konzentrieren, starre aus dem Fenster und fühle mich plötzlich furchtbar allein. Zur selben Zeit essen die Damen des Katholischen Deutschen Frauenbundes aus einer
mittelgroßen, bayerischen Stadt wahrscheinlich ihre Häppchen, trinken ihren Orangensaft und ärgern sich. Sie hatten etwas tun wollen, etwas für arme Länder im Allgemeinen und Russland im Speziellen, und da kommt dann eine aus Russland und vermasselt ihnen den Spaß.
Eine Stadt in Bayern, eine Organisation, ein Beispiel, was sagt das schon aus? Tagtäglich bewirken Tausende Ehrenamtliche, engagierte Menschen, dass dieses Land ein besseres, ein freundlicheres, ein fröhlicheres wird. Der Unterschied zwischen ihnen und den Damen, auf die ich traf, besteht darin, dass die einen etwas tun wollen – und die anderen einfach tun.
Dass es auch anders geht, sieht man zum Beispiel an einer Hauptschule im Stuttgarter Norden. Es ist ein sonniger Nachmittag, noch zwei Tage bis zu den Ferien, draußen auf dem Hof spielen ein paar Jungs Basketball, die Schule wirkt
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