'Sie können aber gut Deutsch'
ernste Angelegenheit. Schließlich möchte man helfen, wo es einem selbst doch so gut geht (man lebt im schönen Bayern, wo die Welt noch in Ordnung ist, der Ehemann – wahrscheinlich Arzt oder Rechtsanwalt – verdient ganz ordentlich, das Haus ist abbezahlt, die Kinder gesund), und jetzt, wo die Kleinen schon etwas größer sind und auf dem Gymnasium, da möchte frau also auch etwas beitragen. Etwas, die Betonung liegt auf etwas, denn wie dieses Etwas genau aussehen soll, was man tatsächlich tun könnte, ist keiner der Frauen so ganz klar.
Aus Mangel an Ideen wurde auf einer Mitgliederversammlung bei Kaffee und selbst gebackenem Kuchen beschlossen, die monatlichen Treffen jeweils einem anderen
armen Land zu widmen. In Afrika sollen ja immer noch Kinder hungern. Dazu könnte man was machen. Oder Haiti, denen geht es angeblich doch auch nicht so gut. Nun werden monatlich Diavorträge, Lesungen, Gespräche und Diskussionen zu diesen Themen organisiert, bei denen sich die engagierten Damen über die schlechte Lebenslage anderer Menschen informieren können, bevor sie mit Orangensaftglas und Schnittchen in der Hand das heutige Outfit von Frau Kraus noch einmal genau unter die Lupe nehmen.
Irgendwann einmal ist Russland dran. Natürlich: Ein großes Land unter den Fittichen des bösen Putin, so viel Zensur, so viel Kriminalität, so viel Armut, es eignet sich wunderbar für einen solchen feinen Informationsabend über die Leiden anderer Völker. Die Programmpunkte sind: Eine russische Aussiedlerin, die Frau Müller flüchtig kennt und die als Verkäuferin in der Boutique von Frau Müllers Schwägerin arbeitet, wird ein wenig aus ihrem schrecklichen Leben im bösen Russland erzählen. Eine Hip-Hop-Gruppe russischer Jugendlicher führt ein paar Tänze auf, die armen Jungen freuen sich bestimmt über ein wenig Taschengeld. Und als Höhepunkt: Eine russische Schriftstellerin liest aus ihrem Buch. Die russische Schriftstellerin bin ich. Wo ich gelandet bin, warum ich hier gelandet bin, wird mir erst bewusst, als ich ankomme. Bereits bei der Begrüßung beschleicht mich der Gedanke, man habe bei der Einladung mehr Wert auf das »russisch« gelegt als auf die »Schriftstellerin«. Wir halten den üblichen Small Talk – Organisationskram und Programmablauf, der Föhn in München, die Deutsche Bahn, jemand werde mich nach der Veranstaltung zum Bahnhof fahren, »danke, wie nett«. Ein kleiner Saal des Gemeindezentrums, Stuhlreihen, eine kleine Bühne, ein kaltes, mit Plastikfolie abgedecktes Büffet, Sekt- und Saftgläser, zwei Blumensträuße in Vasen, ein kleinerer, ein großer.
Die Frau, die in der Boutique der Schwägerin von Frau Müller arbeitet, erzählt frei, ohne Stichworte auf Karteikarten, ohne Stottern. Frau Müller sitzt in der ersten Reihe und nickt bei jedem Satz, aufmerksam, konzentriert und ein wenig stolz, »die habe ich mitgebracht«. Sie berichtet von der Verfolgung von Russlanddeutschen in Kasachstan, von ihrem Außenseitertum in der Schule, von ihren drei Abtreibungen, die so gang und gäbe waren im Ostblock. Sie erzählt auch davon, wie sie damals ankam in der mittelgroßen, bayerischen Stadt, die erst fremd war und dann nicht mehr, den Job in der Boutique von Frau Müllers Schwägerin fand, ihr Mann eine Arbeit in einem großen Industrieunternehmen, wie sie ein Haus bauten, wie sie jetzt ihrem frisch verheirateten Sohn helfen, ebenfalls eines zu bauen. Von fremd in der Heimat zu Grundstückbesitzern. Die Art, wie sie frei spricht, den Zuhörerinnen direkt ins Gesicht schaut und spürbar emotional wird, als sie von den Abtreibungen erzählt, vermag alle zu fesseln, auch den Tontechniker, den einzigen anwesenden Mann, der nun nicht mehr auf seinen Computer starrt, sondern gebannt auf die Bühne blickt.
Die Hip-Hop-Dancer, fünf coole Jungs, tanzen geübt, einmal patzt einer kurz und fällt hin, und sie gehen professionell darüber hinweg. Sie sehen ein bisschen rau aus, wie sie da in ihren Baggypants und weißen Sneakers herumspringen und sich auf einer Hand stehend drehen. Sie lächeln nicht, wirken im besten Fall konzentriert; man könnte auch sagen: unfreundlich, böse. Hip-Hop-Dancer, Gangster, yeah. Sie werden beklatscht, höflich und kürzer als der vorangegangene Programmpunkt. Frau Müller und Frau Kraus und ihre Freundinnen denken, wie interessant, was diese Jungen machen, wie die sich bewegen können, da braucht man Kraft und: wie gut, dass mein Kind jetzt gerade seine Lateinhausaufgaben
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