'Sie können aber gut Deutsch'
wie Schulen am Nachmittag, wenn sie leer sind, oft wirken: groß, verlassen, ein wenig einschüchternd sogar. Von außen ein gelb verputztes herrschaftliches Gebäude auf einem Hügel mit riesigen Fenstern, fast wie ein englisches Eliteinternat. Von innen renovierungsbedürftige Klassenzimmertüren, Wände, die schon lange eines Anstrichs bedürfen, da helfen auch die lieblos nebeneinander gehängten Bilder aus dem Kunstunterricht nicht viel, ein paar halb verwelkte Zimmerpflanzen im Foyer. In einem der meistenteils leeren Klassenzimmer sitzen zwei Menschen, beide noch nicht ganz erwachsen, beide würde man an diesem Nachmittag hier nicht vermuten. Der kleinere von ihnen heißt Kubilay S., er hat Gel in den braunen Locken wie so viele Jungs in seinem Alter heutzutage, er trägt ein kariertes Hemd, und wenn er lächelt, dann tut er es verschmitzt, er könnte einem der »Wilde-Kerle«-Filme entsprungen sein. Er geht in die sechste Klasse. Der größere Mensch heißt Dilek K., sie hat schöne, lange, schwarze Haare, trägt lederne Segelschuhe,
ein Burlington-Halstuch, neben sich eine George, Gina & Lucy-Tasche, hätte sie nicht so einen südländischen Touch, sie sähe wie das klassische Klischee einer BWL-Studentin aus. Sie studiert Infrastrukturmanagement an der Hochschule für Technik.
Die beiden sind Mentorin und Mentee.
»Was habt Ihr denn heute gemacht? In Deutsch?«, will die Mentorin wissen.
»Heute haben wir nichts gemacht. In Deutsch«, antwortet der Mentee.
»Und in Mathe?«
»Da haben wir auch nichts gemacht.«
»Bisch du dir sicher?«, fragt sie noch einmal nach. Die beiden sprechen reinstes Schwäbisch miteinander.
»Ja!«, antwortet der Sechstklässler überzeugt und fügt dann hinzu: »Aber wir haben einen Englischtest nach den Ferien. Du kannst mich ja mal abfragen.« Er kramt ein grün eingebundenes Vokabelheft heraus, und sie wechselt von ihrem Schwäbisch in ein elegantes britisches Englisch. Sie üben unregelmäßige Verben, zwei Stunden lang, bis es draußen langsam dunkel wird, dann besprechen sie noch den Samstag, wenn Kubilay Geburtstag hat und mit seiner Familie sowie seiner Mentorin bowlen gehen will, und dann fahren sie beide heim.
Derya Bermek-Kühn ist die Frau, die die beiden zusammengebracht hat. Sie hat eine Menge solcher Paare gebildet, über achtzig inzwischen, engagierte Gymnasiasten und Studierende, die Kinder aus türkischen, häufig bildungsfernen Familien betreuen, mit ihnen lernen und Dinge unternehmen, im Rahmen des »Großer Bruder – Große Schwester« (»Ağabey-Abla«)-Programms. Die Idee basiert auf dem in mittlerweile zehn Ländern etablierten, seit über hundert
Jahren existierenden Mentoring-Programm »Big sisters, big brothers«, ist aber insofern verfeinert, als dass die Teilnehmer hier aus dem selben Kulturkreis kommen. »Großer Bruder – Große Schwester« wird von der Robert-Bosch-Stiftung gefördert, und Bermek-Kühn, Mitarbeiterin des Deutsch-Türkischen Forums Stuttgart, ist dafür zuständig, die vielen Bewerber, die Mentoren sein möchten, auszusuchen, Schulen zu finden, die mitmachen, für passende Paarungen zu sorgen, Fortbildungen für Mentoren zu organisieren, in denen es zum Beispiel darum geht, wie sich die Eltern in den Lernalltag ihrer Kinder einbinden lassen. Ihr größtes Problem sei, Schulen und Lehrer aufzutun, die an dem Projekt interessiert sind, viele seien zu faul, manche sagen, es handele sich hierbei um eine positive Diskriminierung türkischstämmiger Kinder. Von 20 Schulen, die sie anfangs kontaktiert hat, haben nur vier Interesse gezeigt. Bermek-Kühn spricht mit beiden Seiten über deren Sorgen, sie kümmert sich darum, dass die Kontakte nicht ins Leere laufen, indem sie zum Beispiel von den Mentoren so genannte Tagebücher einsammelt, in denen die Treffen mit Datum, Zielen, Erfolgen protokolliert werden. Da steht dann etwas über die Vorbereitung der Mathematikhausaufgaben oder das Lesen eines Buches oder Sätze wie dieser: »Wir haben in der Stadt einen Spaziergang gemacht und darüber gesprochen, wie wichtig es ist, Träume und Ziele zu haben. Und wir haben was gegessen.«
Was sich banal anhört, ein Spaziergang, ein Gespräch, ein Essen, kann so viel verändern. Die Mentoren können sich zu Vertrauenspersonen für die kleinen Brüder und Schwestern entwickeln, sie sind Vorbilder, die ihnen nicht von Autoritäten vorgesetzt werden, sie haben denselben Hintergrund und deshalb Verständnis. Wenn ein Viertklässler traurig
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